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         Armin Schreiber  | 
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         Was ist neu am Neuen Realismus?  | 
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         Zu den Arbeiten von Dieter Asmus  | 
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         Realismus
        – ein Mysterium? 1.
        Eine der bemerkenswertesten Verlautbarungen, die Anfang der nuller Jahre
        die Runde machte, entstammte dem Katalog einer damals
        vielbeachteten Ausstellung zum Thema „Radikaler Realismus“ in
        Wolfsburg: „Die figurative Malerei“, hieß es da, „hat ihre
        Lesbarkeit eingebüßt“.[1]  2.
        Keine andere Kunstrichtung ist stärker von Mißverständnissen
        durchwuchert als der Realismus, gerade auch auf kunstwissenschaftlicher
        Ebene: Historische Restbestände aus den Zeiten der „bataille réaliste“
        und neu hinzugekommene Verkennungen und Verwechslungen! Sie lenken den
        Blick potentieller Betrachter auf Aspekte, deren Wahrnehmung für das,
        was auf dem Bild tatsächlich zum Ausdruck kommt, in der Regel ganz und
        gar irrelevant ist. Zu den diesbezüglichen Dauerbrennern gehört die
        Phantasmagorie „objektive Wiedergabe“. So wird – jüngstes
        Beispiel – im Katalog-Text zur Realismus-Ausstellung „Abenteuer
        Wirklichkeit“ (Emden, München, Rotterdam) die Problematik erörtert,
        „der ein Künstler gegenübersteht, wenn er sich zum Ziel setzt,
        Wirklichkeit möglichst objektiv ins Bild zu transformieren“. Ich
        kenne keinen Künstler, der dieses Ziel verfolgt.  3.
        Denn nicht um objektive Übertragung geht es, sondern – kurz gesagt
        –  um das Herstellen einer
        visuellen Mitteilung über den Eindruck, den ein höchst subjektiver
        nuancierter Kontakt mit der Wirklichkeit beim Künstler hinterlassen
        hat. Was sich bei einem solchen Kontakt abspielt, beschreibt Elisabeth
        Binder in ihrem Roman Der
        Wintergast, in dem  erzählt
        wird, wie ein Künstler seine Ladehemmung überwindet. Auf einer
        Bergwanderung fühlt er plötzlich, dass mit seinen Augen etwas vorgeht:
        „Als erwache er gerade aus einer Taubheit. Als habe man ihm, wie in
        der Kindheit ein paarmal die Ohren, soeben die Augen ausgeblasen. […]
        Es war, als sei eine Trennscheibe zwischen ihm und dem Bild lautlos
        zersplittert. Es gab nicht mehr: ihn hier – und dort das Bild. Er war
        draußen oder das Bild in ihm drinnen, fiel in ihn hinein, füllte ihn
        vollkommen aus. Als sei er selbst – und ein paar Sekundenlang, während
        er nichts dachte, war er es
        selbst: der Fels, glatt geschliffen und feucht glänzend, und das
        Geflecht der Wasseradern –  Während
        er doch gleichzeitig alles sah, lebendig wie nie zuvor. – Das  dauerte
        vielleicht nur ein paar Herzschläge lang. Dann verging es wieder.“[2] 4.
        Kunst ist der Versuch, solche Momente ästhetischer Erfahrung via Bild
        kommunizierbar zu machen. Wenn er gelingt, kann das Bild beim Besucher
        eine Resonanz auslösen. Im besten Fall entspricht sie der Empfindung,
        die den Maler angesichts des ersten Kontakts mit dem Motiv selbst erfaßte,
        wobei die Nachwirkung dieser Empfindung durchaus auch zu neuen,
        sinngebenden Verbindungen mit den „Dingen der Welt“ führen kann. 5. Hervorgerufen wird dieses mentale Echo, das also, was von Alexander Gottlieb Baumgarten im 18. Jahrhundert „ästhetisches Erlebnis“, später allgemein dann auch „Kunsterlebnis“ genannt wurde, nach wie vor durch die Form der Darstellung: Für die Rezeption der Bilder von Dieter Asmus, deren Entstehung an dieses Axiom geknüpft ist, ein doppeltes Dilemma! „Die
        Kunst ist Form, oder sie ist nicht!“ Eine Sentenz
        zur Bedeutung der Form wie dieses Bonmot von Gottfried Benn haben die
        meisten im Kopf, das Phänomen
        „Form“ jedoch ist, wie bereits Goethe konstatierte, „ein Geheimnis
        den meisten.“ Und zu „den meisten“ muß man inzwischen auch viele
        der gegenwärtig tätigen Kuratoren rechnen. Durch die permanent
        fortschreitende Diskursivierung der Kunst, die primär begrifflich
        vorgegebene Inhalte aus Ethno-, Sozio-, Öko- und Ökologie etc.
        visualisiert[3],
        kommt es zur stillschweigenden Suspendierung der Form als dem konstituierenden Faktor. Das Gespür für ihre basale Bedeutung
        geht auch bei Ausstellungsmachern verloren, da sie die „in Form
        gebrachte“, nicht diskursivierbare bildhafte Expression einer bis dato
        unbekannten Erfahrung in ihre Ausstellungs-Konzepte offenbar nicht
        einbinden können. Indirekt bestätigt Roger Buergel, Kurator der 12.
        Documenta, die weitgehende Ausblendung der Formfrage, indem er
        feststellt, „daß es allgemein einen kompletten Analphabetismus gibt,
        was ästhetische Formen betrifft“, wobei auch ihm – auch er Opfer
        einer „déformation professionelle“ – nichts Besseres einfiel als
        diese Einsicht in die Bekanntmachung eines soziokulturellen Phänomens
        umzumünzen: Er präsentierte Dokumente zur „Migration der
        Form“.  6.
        Zweifellos wird der Ausstellungsbetrieb weiterhin mit diesem
        „kompletten Analphabetismus“ kooperieren. Das zeigt die
        Einweihungs-Zeremonie des ersten Kunstwerks der dOCUMENTA (13) am 21.
        Juni 2010 im Auepark: Niemand widerspricht dem Künstler Giuseppe Penone,
        auch die Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev nicht, als er zu seiner
        Plastik „Ansichten eines Steins“ folgendes mitteilt: „Wenn die
        Bedeutung des Malens das Bedecken ist und die Bedeutung der
        Skulptur das Entdecken, dann wird die Malerei durch die
        Schwerkraft charakterisiert und die Skulptur durch die Kraft, die der
        Schwerkraft entflieht, die Kraft des Lichts.“ Quatsch? Oder einfach
        nur ein Diskurs-Beitrag alla „arte povera“? 
        Über eine Skulptur,
        die als Markierung „auf dem Weg zur dOCUMENTA (13)“ figurieren soll,
        wird gesprochen, aber die Vokabel „Form“ kommt nicht vor!   7.
        Um – vor diesem Hintergrund – Dieter Asmus und seine Version eines
        Neuen Realismus zu verstehen, muß man noch einmal zu den Anfängen zurückgehen.
           „Die Kunst ist abstrakt
        geworden“? Ende der 60er Jahre, als die Bilder des Neuen Realismus von Dieter
        Asmus in der Öffentlichkeit auftauchten, nannte er Konrad Witz und die
        Fotografie als entscheidende Bezugspunkte seiner Malerei. Einen Maler
        der „ars nova“ also, des Übergangs zwischen Spätgotik und Frührenaissance,
        in dessen Werk die Hinwendung zu den konkreten Gegebenheiten der
        Wirklichkeit überaus plastisch zum Ausdruck kommt und – als  wichtigen
        Impuls der Gegenwart – die per Kamera entdeckten, bis dahin nicht
        wahrgenommenen Erscheinungen der Realität.  Der entscheidende Faktor jedoch, das, was Albrecht Dürer
        „inwendig voller figur“ nannte oder Oskar Kokoschka „Visionen von
        zwingender visueller Überzeugungskraft“ und Asmus selbst später als
        die „formstiftende Suggestion von Bildvorstellungen“ bezeichnete,
        blieb damals unerwähnt, weil er – so Asmus heute – diese Vorgabe
        als Basis und Antrieb einer jeden ernsthaften künstlerischen Tätigkeit gesehen hat, die man
        nicht extra hervorheben mußte.  Über die Lektüre des von ihm mitverfaßten Manifests der Gruppe
        ZEBRA (1964/65) ergibt sich eine weitere Erklärung: In den ersten
        Zeilen dieser Verlautbarung wird vehement gegen die Kreationen der
        Tachisten, gegen deren „Seelenlandschaften“ und alles Zufällige,
        Individuelle, Anekdotische  gewettert.
        Und dann heißt es unter Punkt 7: „Es geht in diesem Moment der
        Malerei um die komplexe Neuerstellung von Dingen im Bild […], ohne auf
        die vorabstrakte Malerei zurückzugreifen.“ Angesichts dieser
        Formulierung wäre ein Verweis auf „innere Bilder“, die man
        mainstreamgemäß jenen „Seelenlandschaften“ zuordnet hätte, wenig
        hilfreich gewesen, zumal das unerwartete Anrücken eines neuen Realismus
        ohnehin für Konfusion in der Kunstszene sorgte. Hatte doch Werner Haftmann, allseits geachteter Experte, erst 1959,
        und zwar per documenta-Statement, festgestellt, die Kunst sei abstrakt
        geworden! Und plötzlich kamen – vielfach nicht als Notwendigkeit,
        sondern einzig als Provokation empfunden – in der Malerei wieder Dinge
        zum Vorschein: Ein verwirrender Tatbestand! Ein Affront, angesichts
        dessen formal-ästhetische Aspekte, wenngleich sie im Manifest konkret
        benannt, zudem in Interviews[4]
        ansatzweise auch erläutert waren, nur oberflächlich registriert
        wurden. Dabei hatte während des Booms der Abstraktion in den 50er
        Jahren kaum etwas anderes zur Debatte gestanden als die
        Auseinandersetzung mit formalen Fragen. Der Transfer jedoch der dabei
        erworbenen Lesefähigkeiten war offensichtlich blockiert.
        Künstlerpech einer besonders finsteren Version!
        Denn gerade in der Form, im Modus ihres Erscheinens,
        steckten Novum und Brisanz dieser wieder ins Bild tretenden Gegenstände! Das
        innere Bild als Kompaß  Jeder Künstler (produktive Künstler und nicht „Nachempfinder“)
        müsse, so heißt es bei Kandinsky, die Formfrage individuell klären.
        Bei diesem Prozeß, an dessen Ende Dieter Asmus die Ausdrucksmittel
        eines neuen Realismus gefunden hat, fungiert als Kompaß die oben erwähnte
        „inwendige figur“.  Was hat es mit diesen speziellen neuronalen Verschaltungen, mit den
        „inneren Bildern“, mit den „Bildern des geistigen Auges“ (C. D.
        Friedrich) auf sich und worauf basiert ihre formstiftende Suggestion? In
        rudimentärem Zustand existieren derartige Bilder ab ovo und ihr Ausbau,
        ihre Modifikation und Erweiterung setzt bereits im pränatalen Stadium
        ein: Zunächst evoziert durch Reize aus dem Mutterleib, später durch
        Informationen aus der Umwelt. Relativ sicher ist, daß sich die für ästhetische
        Wahrnehmung relevanten Muster zwischen dem 3.
        und 5. Lebensjahr ausbilden, im Verlauf der entscheidenden Phase
        organischer Gehirnreifung also. Daß sie im Gehirn nicht zu lokalisieren
        sind, sondern arealübergreifend als synchrone Zustände von Millionen
        verteilter Nervenzellen existieren, weiß man inzwischen; nicht dagegen,
        wie diese individuelle Matrix
        zustande kommt.  Wissenschaftliche Untersuchungen gibt es darüber nicht, aber es
        gibt Künstleräußerungen über den Ort des Geschehens, über die besonderen Umstände
        und atmosphärischen Gegebenheiten etc., wobei nie der Hinweis fehlt, daß
        man diese Momente als Augenblicke von höchster emotionaler Dichte
        erlebt.[5] Darauf angesprochen, ob bezüglich seiner Formvorstellungen ein
        solches Schlüsselerlebnis existiere, berichtet Asmus von einer
        Begebenheit aus dem Sommer 1943, wo er – ausgebombt in Hamburg – mit
        seiner Mutter in einen Dorf an der Ostsee wohnte: „Da wir nachts wegen
        der Hitze und des pausenlosen Anflugs der englischen Bomber auf Kiel, in
        deren Schneise wir lagen, nicht schlafen konnten, standen wir alle im
        Nachthemd vor dem Haus und sahen auf die brennende Stadt. Eins der zurückkehrenden
        Flugzeuge, das offenbar noch vor dem Abwerfen seiner Last von der Flak
        angeschossen worden war, erleichterte sich dadurch, daß es seine Bomben
        einfach fallen ließ. Wir wurden vom Druck einer Luftmine auf den Rücken
        geworfen. So konnte ich sehen, wie das hinter uns liegende zweistöckige
        Gründerzeithaus mit den sehr hohen Schornsteinen regelrecht umklappte,
        wobei die Schornsteine einen Moment lang in der Luft stehenblieben, um
        sich dann in einzelne Ziegel aufzulösen, die, sich drehend, nach und
        nach, wie in Zeitlupe, neben uns ins Gras klatschten. – Dies
        ist eine meiner einprägsamsten Kindheitserinnerungen. Nicht, weil ich
        mich in Lebensgefahr befand, sondern weil dieser Anblick geradezu
        idealtypisch meiner inneren Negativform[6] entsprach, wie mir später
        als Künstler  bewußt
        wurde: vollplastische Gegenstände, farbig stark beleuchtet durch die
        Flammen, vom Himmel freigestellt, in langsamer Bewegung
        freischwebend im dreidimensionalen Raum.“[7] Der
        Beschreibung nach handelt es sich – angedeutet in der Schlußsentenz
        – um einen besonderen Moment
        ästhetischer Wahrnehmung[8], der dem Kind vermittelt,
        in welchem Erscheinungsmodus die Dinge der Welt speziell ihm
        den ultimativen Zugang, das Erlebnis ihrer Evidenz, ihrer Schönheit
        anbieten und der wohl auch den entscheidenden Impuls zu späterer Kunsttätigkeit
        setzt. Die Situation prägt sich als sog. Blitzlicht-Erinnerung dem
        episodischen Langzeitgedächtnis ein.  Natürlich
        wird sie zu dem Zeitpunkt nicht reflektiert, bleibt aber unterschwellig
        wirksam, liegt gewissermaßen auf der Lauer: In dem Augenblick, in dem
        dem Betreffenden eine (strukturell) vergleichbare Figuren- oder
        Dingkonstellation vors Auge kommt, erfolgt eine besonders intensive
        Reaktion. Interessanterweise treten solche ästhetischen Euphorien auch
        dann ein, wenn nicht sämtliche Elemente der Urprägung im Spiel sind.
        (Asmus nennt als ein Beispiel das Erlebnis schwarz-weißer Kühe auf grüner Wiese,
        illuminiert durch die Strahlen der untergehenden Sonne).  Relevant für die künstlerische Arbeit
        wurde das „innere Bild“ während des Studiums: Der 20-, 22-jährige
        Kunststudent, der zwar weiß, was er nicht will, darüber hinaus jedoch
        nur vage Vorstellungen zur Form seines zukünftiges Bildes hat,
        nimmt in der Regel zunächst die aktuellen am Markt befindlichen Maler-
        und Bildhauereien in Augenschein, unterzieht sie gewissermaßen dem  Resonanz-Test,
        um so einen Anknüpfungspunkt zu finden. Man kann davon ausgehen, daß
        hier jene individuelle Matrix – noch immer unbewußt – in Funktion
        tritt: Von Künstlern, deren Werk eine spürbare Anziehungskraft
        entfaltet, übernimmt er bestimmte Formelemente, modifiziert und ergänzt
        sie in fortwährendem Kontakt zu seinem inneren Bild, bis endlich
        Arbeiten mit wachsendem Eigenanteil entstehen und sichtbar wird, was man
        allgemein als „persönlichen Stil“ oder „individuellen Ausdruck“
        bezeichnet. Vom Tachismus zum Neuen Realismus Asmus findet seinen
        Anknüpfungspunkt bei Jean Dubuffet, dessen Arbeiten auf der 2.
        Documenta (1959) zu sehen waren: Aufgrund einer starken Beziehung zu
        Texturen galt Dubuffets Werk – gesehen  durch
        die Brille der Abstraktion – als „absolut modern“. Gleichzeitig
        aber wiesen dessen Arbeiten über diese Moderne hinaus, denn die
        Farbformen seiner Bilder waren nicht selbstreferenziell gemeint, sondern
        bezogen sich auf  real Existierendes, was auch in Titeln wie The Cow with the Subtil Nose (1954) zum Ausdruck kam.  Sich dem eigenen inneren Bild anzunähern,
        zu klären also, über welche Mittel die endogene Vorstellung auszudrücken
        wäre, ist per Gedankengang nicht zu bewältigen. Ergebnisse, Teil- oder
        Zwischenlösungen, können sich allein im praktischen Vollzug
        entwickeln, müssen sich materialisieren, auf der Leinwand sichtbar
        werden. Der Weg zum eigenen Bild ist mit der Durchquerung eines
        unbekannten Sumpfgeländes zu vergleichen: Markierungen existieren
        nicht, man muß den Pfad stückweise ertasten, auf Tragfähigkeit hin
        testen. Bezogen auf die Arbeit im Atelier heißt das: Temporäre
        Zufriedenheit (und die mentale Disposition für einen nächsten Schritt)
        ergibt sich offenbar dann, wenn dem Künstler in spe eine Annäherung an
        seine „inwendige figur“ gelungen ist. Mit Blick auf die vorgestellten
        Arbeiten aus dem Frühwerk
        läßt sich die Schrittfolge in groben Zügen rekonstruieren:  Die 1961 begonnene Arbeit Mitternachtssonne
        präsentiert ihr Sujet, abgesehen von der frisch-farbigen Kolorierung
        (bei den Meistern der 50er Jahre dominieren die damaligen Modetönungen
        grau und braun), noch in der Manier Dubuffets: eine segmentierte
        Landschaft in der unteren Bildhälfte, darüber, anders texturiert, der
        bewölkte Himmel und die Sonne. Zu sehen ist ein Simultanbild, das in 7
        Phasen jenes kaum wahrnehmbare Absinken und Wiederaufsteigen der
        orangenen Scheibe in unmittelbarer Nähe des Horizonts zeigt.
        „Bewegung“,   auch
        „farbige Beleuchtung“, zwei Komponenten also des inneren Bildes,
        sind angedeutet. Aber Plastizität? Räumlichkeit? Fehlanzeige! Noch
        steht auch Asmus im Bann des Generaldekrets der Nachkriegskunst ("Plus
        c'est plat, plus c'est de l'art!“)[9],
        demzufolge alles auf dem Bild flächig zu sein hat. Dabei bleibt es
        einstweilen, doch die Freistellung der Dinge, ein wichtiges Element der
        Sommernachts-Situation 1943, wird weiter vorangetrieben: In Steingarten
        mit Figur (1962) ist das Gemeinte ostentativ von der Umgebung separiert,
        farblich vor allem, aber auch in Bezug auf die Art des Farbauftrags.
        Sukzessive glätten sich Unter- und Hintergrundflächen (Zwei
        Schornsteine, 1962/63, Pik-König, 1963). Zudem wird an den
        Gegenständen die umlaufende Kontur deutlicher sichtbar, ein weiteres
        Bildmittel, das die Dinge noch entschiedener vom Umfeld absetzt und das
        Asmus in modifizierter Form auch heute noch einsetzt. Während in Pik-König der „richtige“
        Hintergrund – glattes Buntpapier ohne Malspuren – bereits fixiert
        ist, deuten die Zwei Schornsteine  bzw.
        der anthrazit-grüne Rauch über den Schloten, eine interessante
        Zwischenlösung des Problems „Plastizität“ an. Zwischenlösung
        insofern, als das Voluminöse des Qualms – 
        Schwerspat, modelliert – zwar deutlich wird, aber noch als
        haptisches, nicht als optisches Phänomen in Erscheinung tritt: borkig
        aus der Fläche hervortretend. Ähnlich verfährt Asmus in Haus mit Rauchfahne.
        Hier sind der Ölfarbe Stoffreste, Kordeln, Kronenkorken beigemischt, so
        daß sich ein vegetativ anmutendes Relief ergibt. Kurz zu Froschtest
        (Dr. Rock), zu einem Bild, das zwischen 1983 und `86 entsteht, d.h., zu einem
        Zeitpunkt, da Asmus seine Bildmittel weiter ausdifferenziert und –
        farbige Beleuchtung ausgenommen –
        sicher
        beherrscht.
        Der Vorgriff schärft den Blick für die Art und Weise, in der einige Köpfe
        der Vorsokratiker
        (1963) Plastizität (und Präsenz) erhalten: Unterlegt sind sie mit weißer,
        angelegt in schwarzer Deckfarbe, die aber so verrieben wird (mit dem
        Finger), daß an einigen Stellen das Weiß wieder hervortritt, während
        sich das Schwarz an der Kontur verdichtet. Hier wird der Übergang von
        haptischer zu optischer Plastizität sichtbar: Die Textur existiert nach
        wie vor, jetzt aber primär als Beschreibung der Oberfläche, nicht als
        Konkretisierung von Plastizität. Die ergibt sich durch die Helligkeit
        (in der Mitte der jeweiligen Figur) und die Abschattierung zum Umriß
        hin, was am „Linksaußen“ der 2. Reihe besonders gut zu sehen ist. Mit bildlogischer
        Konsequenz kippt nun, gegen Ende der Formfindungsphase, auch die Fläche,
        bislang auf einer gedachten Ebene mit der Figur, nach hinten.
        Erstmals sichtbar in Hockeyspieler
        (1964), entsteht eine Raumillusion. Und damit ist ein extrem großer
        Schritt in Richtung Realismus getan. Jetzt nämlich gelingt es,
        Dreidimensionalität zu imaginieren. Gegenstände und Figuren
        „kleben“ nicht mehr an oder auf der Fläche, sondern befinden sich
        – wie in Wirklichkeit – im Raum. Den Schlußpunkt unter das Frühwerk setzt Landschaft
        mit Torso (1964): Die Plastizität der Vegetation tritt noch – Abschiedsgruß
        an Dubuffet – als flächiges Relief, als haptisches
        Phänomen also, in Erscheinung, die Figur hingegen vermittelt ihr
        Volumen bereits optisch, durch
        Licht und Schatten und die mit dem Hautton „verhäkelte“ umlaufende
        Kontur. Im Prinzip, so könnte man sagen, hat Asmus seine
        Bildmittel jetzt beisammen: Gesichert sind Räumlichkeit (Hockeyspieler)
        und die Plastizität der Gegenstände und Figuren, sowie deren
        Exponierung durch die umlaufende Kontur (Landschaft
        mit Torso) und das Freistellen vor glattem Hintergrund (Pik-König). Von individuellem
        Ausdruck und persönlichem Stil jedoch kann man erst ein Jahr später
        sprechen, als die ersten Bilder des Neuen Realismus vorliegen. Ade Quast und Spachtel Diese 12 Monate allerdings,
        in denen Kniende mit Ball
        und
        Frau mit Ball entstehen, haben es
        in sich: Bis zur Fertigstellung der Landschaft
        mit Torso erfolgte die Mitwirkung der „inwendigen figur“ (in ihrer
        Funktion als Kompaß)  unterschwellig.
        Der höchst erstaunliche, ohne weitere Zwischenschritte absolvierte
        Sprung zu  Kniende
        mit Ball deutet darauf hin, daß Asmus jetzt, 25 Jahre alt, sein inneres
        Bild erkannt hat: Passiert ist, was er das „blitzartige, mit wachen
        Sinnen erlebte Zusammentreffen von endogener Vorstellung und äußerer
        Erscheinung“ genannt hat.[10] Das innere Bild wird bewußt
        und auch, unter welchen optischen Bedingungen die konkreten
        Erscheinungen der Welt bei ihm jenes Übermaß an innerer Bewegung auslösen
        und zum Inbild einer wahren Sicht der Dinge werden, die er unbedingt zum
        Ausdruck bringen will. Denn so, wie er die gegenständliche Welt in
        solchen  Momenten erlebt,
        ist sie in der Malerei – das immerhin haben die
        Kunstgeschichts-Vorlesungen gebracht – noch nicht fixiert!  Aufgeladen mit den
        Ingredienzien dieses Erfahrungskomplexes setzt er zum Endspurt an, der
        den Formfindungsprozess, bezogen auf die Grundelemente, zu 
        einem vorläufigen Abschluß bringt. Er beginnt mit der Entrümpelung
        sowohl der Ölfarbe als auch des Werkzeugkastens: Sand (minimale Mengen
        sind bei Kniende mit Ball noch auszumachen),
        Stoffreste, Kordeln, Knöpfe und Kronenkorken, Materialien, die bis
        dahin der Farbe beigemischt waren, verschwinden ebenso wie Holzspachtel,
        Farbrollen, Borstenpinsel, Kämme, Messer und Gabeln, Utensilien also,
        mit denen er anfangs die Farbmassen zu grob texturierten Flächen und
        borkigen Formen verarbeitet hatte. Übrig bleiben die Ölfarbe, wie sie
        aus der Tube kommt und als Werkzeuge Haarpinsel und Stupfpinsel! Die Entscheidung, Ölfarbe
        nicht mehr per Quast und Spachtel, sondern mit Fehhaar- und Stupfpinsel
        aufzutragen, d.h., eine Maltechnik zu wählen, die im Ausbildungsangebot
        der HfBK gänzlich gefehlt hatte und nun von Grund auf, mit dem „Doerner“[11]
        unterm Arm, neu erlernt werden mußte, macht klar, daß ihm die
        gestalterischen Probleme des „Restprogramms“ bewußt waren:  Welchen Status sollten die
        neu zu erstellenden Menschen, Dinge, Landschaften erhalten bzw.
        besitzen: gegenständliche Phänomene, die sich bislang allein über das
        Erlebnis ihrer exorbitanten Wirkung ausgewiesen hatten? Welche Lesarten
        – andererseits – mußten unbedingt blockiert werden? Wie etwa war zu
        vermeiden, daß die jeweiligen Sujets als Vorwurf für die Entfaltung
        malerischer Gesten, oder als Motiv einer Medienreflexion oder als
        Transportmittel für Metaphern und Symbole gesehen werden? Angesichts solcher Fragen
        auf Ölfarbe, Fehhaar- und Stupfpinsel zu setzen, ist riskant! Zwar kann  man mit Ölfarbe
        alles machen, aber man muß
        auch alles machen, da sie
        keine Formulierungshilfen anbietet. Pastellkreide z.B. entmaterialisiert
        sich in dem Moment, wo sie als Strich zur Fixierung einer Kontur auf dem
        Fond erscheint. Sie wird im Zuge des Farbauftrags zu etwas Bildhaftem,
        denn der entstehende Strich bildet automatisch an beiden Seiten ein
        leichtes Sfumato, läßt also „von selbst“ eine spezifische Wirkung
        entstehen. Ein Ölfarbenstrich dagegen ist indifferent, suggeriert
        nichts; bleibt, was er in der Tube war: Farbe. Wenn also – bei der Umrißlinie
        eines Balles etwa – der Konturenstrich innen angelöst werden soll, um
        eine Wölbung zu suggerieren, muß das gemacht
        werden; wenn er außen messerscharf stehen soll, weil das Objekt
        sich deutlich vom Hintergrund abheben soll, muß das gemacht
        werden. Die Frage ist dabei nie: was ergibt sich, sondern immer: was
        will der Künstler erreichen? Ölfarbe zwingt ihn zu geistiger Klarheit.
        Er sollte, bevor er zum Pinsel greift, sein bildnerisches Ziel präzise
        vor Augen resp. im Körper haben. Unausgegorene bzw. diffuse
        Vorstellungen durch das Medium zu kaschieren, diese Möglichkeit läßt
        Ölfarbe nicht zu. Wie gesagt, besteht das Risiko des Scheiterns
        durchaus. Zugleich aber erhöht sich die Chance, über ein radikales Präzisieren
        der bildnerischen Formulierung den gewünschten Ausdruck tatsächlich zu
        treffen. Das gelingt in Frau mit Ball und damit legt Asmus
        die erste, nach Maßgabe seiner Bildvorstellungen ganz und gar stimmige
        (nun auch vom Sand befreite!) prototypische Formulierung eines neuen
        Realismus vor: Die wesentlichen Komponenten, also Räumlichkeit,
        Plastizität, Kontrast von modelliertem Gegenstand und glattem, flächigem
        Hintergrund, bis dahin in annähernd „brauchbarer“ Fixierung auf
        verschiedene Arbeiten verteilt, werden hier, weiter präzisiert,
        zusammengeführt, wobei die übermäßige, den Magen malträtierende und
        Schonkost[12] erzwingende Anstrengung während
        des entscheidenden Zeitraums wohl primär der Figur gegolten hat.
        Innerhalb eines Jahres war aus dem gerade erst von den Spuren haptischer
        Plastizität befreiten Torso eine lebensgroße Figur geworden, der man
        in der Realität tatsächlich begegnen konnte, und deren Körperlichkeit
        nun durch den Wölbung suggerierenden stufenlosen Verlauf (Stupfpinsel!)
        vom Weiß des Glanzlichts zum Schwarz an der Kontur entstanden war. Stilmittel des Neuen
        Realismus Steht man vor Frau mit Ball oder anderen während
        der 60er und 70er Jahre entstandenen Arbeiten, dann verblüffen auch
        heute noch – gerade angesichts der 
        relativ einfach gehaltenen Motive – das jugendlich Frische,
        Nichtkonventionelle  und die
        Wirkungs-Energie dieser Malerei. Hervorgerufen wird der Eindruck durch
        das Zusammenspiel zweier Komponentenkomplexe: Erstens durch ausgewählte
        Bildmittel aus dem Fundus der
        Malerei, die sich im Zuge der Formfindung als „brauchbar“
        erwiesen haben; zweitens durch die Einbindung von Gestaltungselementen
        der Fotografie, die in solcher Systematik und Radikalität erstmals
        bei Asmus genutzt werden.  Im Gegensatz zu
        Ausdrucksformen wie Action-Painting, Tachismus, Ex- oder
        Neoexpressionismus, bei denen der individuelle Pinselstrich eine maßgebliche
        Rolle spielt, tritt die persönliche Handschrift bei Asmus gänzlich zurück.
        Ihm geht es nicht um die Exponierung der Faktur, die selbstredend auf
        den Herstellungsprozeß, mithin auf den Künstler verweist, zudem
        Aufmerksamkeit bindet und vom Gegenstand ablenkt, sondern durchgängig
        um eben diesen Gegenstand, dem Kernstück seiner künstlerischen
        Bestrebungen: Der spurenlose Farbauftrag vermittelt diese Intention. In die gleiche Richtung
        weist die Anordnung der Bildelemente. Niemand würde angesichts dieser
        Arbeiten von gewagten oder raffinierten Arrangements sprechen. Das ist
        beabsichtigt. Die Aufmerksamkeit soll nicht durch diesbezügliche Kunstkönnerschaft
        absorbiert werden. Hauptsache und allein wichtig ist das jeweilige
        Objekt. Es wird „schlicht“ aber wirksam in die Mitte des Bildes
        gesetzt, und zwar im Rahmen einer unspektakulären, einfachen
        Komposition.  Was über die
        Bildkomposition gesagt wurde, gilt ebenso für die Fixierung des Umfelds
        der Dinge und Figuren. Zur Charakterisierung der Außenareale reichen
        wenige gezielte Hinweise und ein wolkenloser Himmel.
        Einfach ist auch die Innenraum-Architektur. In der Regel werden, und
        zwar in stark stilisierter Form, nur die Standfläche (genauer definiert
        durch Farbverläufe oder perspektivisch angelegte Linien) und der
        Hintergrund (Kacheln, Tapeten) gegeben, also eine auf Grundelemente reduzierte Darstellung der räumlichen Situation.
        Meise
        oder Mädchen mit rotem Stuhl
        zeigen: diese Angaben reichen, um Raum zu imaginieren. Außerdem macht
        die nähere Bezeichnung der Örtlichkeit (Zimmer, Käfig, steiniger
        Strand etc.) bestimmte Haltungen, Gesten, Bewegungen verständlicher.
        Und natürlich – ein  entscheidender
        Punkt (!) – haben der wolkenlose Himmel ebenso wie die flächigen,
        glatten Wände die Funktion, die plastischen
        Figur freizustellen, zu
        exponieren. Dabei ist nicht die zufällige,
        von Lichtverhältnissen oder atmosphärischen Umständen abhängige
        Erscheinung der Dinge gemeint. Vielmehr sollen Figuren und Gegenstände
        – das Manifest avisiert eine komplexe Neuerstellung – in ihrer
        essenziellen Beschaffenheit gezeigt werden. Folgerichtig tauchen Schlag-
        oder Körperschatten, desgleichen Überblendungen, die Teile des Motivs
        optisch verschwinden lassen, nicht auf. In den Bildern herrscht diffuses
        Licht, so daß man die mit der Kontur
        verschmolzene umlaufende Dunkelheit als natürlich empfindet. Im
        Zusammenwirken beider Stilmittel wird das betreffende Objekt mit einer
        wesentlichen Grundgegebenheit ausstattet: mit ihrer Plastizität. Nicht wie sie erscheinen,
        sondern wie die Dinge sind: Dieser Vorstellung folgt auch das Kolorit der ins Bild
        gesetzten Objekte. Die Oberfläche etwa einer an sich weißen
        Kaffeetasse erhält, wenn sie auf einer roten Kunststofftischdecke
        platziert ist, eine leichte Rotfärbung. Sie präsentiert sich – bei
        Impressionisten oder Foto-Realisten wäre das der Fall – in der Erscheinungsfarbe
        „Rosa“. Asmus hingegen zeigt die Gegenstände, wie sie faktisch
        existieren, d.h., in ihrer   
        Lokalfarbe.  Zweimal
        im Verlauf seines künstlerischen Schaffens, in Blumen
        für Petrucciani (2000/01)
        und Schmetterling
        im Aufwind (2004) modifiziert Asmus
        diesen Grundsatz und zeigt das Motiv – der Urprägung des inneren
        Bildes geschuldet – in  farbiger
        Beleuchtung. Indirekt bleibt die Lokalfarbe auch dabei im Spiel, denn
        der Verfremdungseffekt, der die betreffenden Dinge der utilitaristischen
        Sicht entzieht und eine ästhetische Wahrnehmung evoziert, wirkt wegen
        der ins Auge springenden Abweichung vom „natürlichen“ Kolorit, was
        am Beispiel der  bekanntlich immer weißen Tastatur des Klaviers in 
        Blumen
        für Petrucciani (2000/01) besonders  deutlich
        wird.[13] 
          Das Haar in der Suppe Bewußt habe ich mich bei der Beschreibung der Stilmittel an die Arbeiten der 60er und 70er Jahre gehalten, an Bilder der Fundierungsphase also, deren Wirkkräfte sich aufgrund der elementar einfachen, giottoesk anmutenden Gestaltung relativ leicht isolieren (und darstellen) lassen. Auffällig ist die formale Sringenz, mit der Asmus „die komplexe Neuerstellung von Dingen“ angeht und die zeigt sich u. a. auch daran, wie er auf Erscheinungen der Wirklichkeit reagiert, deren konzeptgemäße Fixierung zunächst nicht gelingt. Für
        Haar z.B., bildnerisch gesehen ein grafisches Phänomen, findet er, da
        die Plastizität der Dinge unabdingbare Priorität besitzt, zunächst
        keine befriedigende Form. Doch er greift nicht auf tradierte Lösungen
        zurück, was vermutlich auch bei nicht naiven Betrachtern durchgehen würde,
        sondern verzichtet vorerst, nach einem Versuch (Frau
        mit Ball, 1965/66), auf Frisuren, Wuschel- und Lockenköpfe;
        verpaßt seinen Damen Bademützen (Kniende mit Ball, 1965, Unter
        der Höhensonne, 1968) und dem Torwart
        (1970/71) eine kappenartige Kopfbedeckung, so daß schließlich
        sämtliche Details der Figuren die formale Absicht verkörpern. Das
        Thema „Haar“ aber bleibt auf der Tagesordnung, wobei zu beobachten
        ist, daß sich mit zunehmender Differenzierung der menschlichen Figur
        (der Dinge generell) auch Fortschritte in dieser
        Sache ergeben. Deutlich wird diese Verknüpfung, wenn man Frau mit Ball mit dem 12 Jahre später
        entstandenen Bild Frau
        mit Eisbecher vergleicht. Zu Beginn eine stark vereinfachte,
        auf das Konzept hin idealisierte, programmatisch-plastische Kunstfigur
        mit einer eher pauschalisierenden Darstellung der Frisur. Entschieden
        vielfältiger dann die Frau
        mit Eisbecher: Im Zuge eines weiteren Schritts der
        intendierten „Neuerstellung von Dingen“ kommt hier – das mit
        floralen Elementen bedruckte Sommerkleid der Protagonistin! – als
        neues Element „bemalte Plastizität“ ins Spiel. Neu sind zudem die
        stark individualisierende Gestik und Mimik der Figur sowie, immer als
        „Plastik“ gesehen, der Halsschmuck, die als Spritzform dargestellte
        Schlagsahne, die Waffel mit filigranem Rautenrelief etc. und – auf 
        gleichem Differenzierungs-Niveau – eine konzeptgemäße Frisur!
        Asmus löst Formfrage, indem er die einzelnen Komplexe der Haartracht
        (Locken, Strähnen, nach innen gedrehte Wellen) als plastische Gebilde
        begreift und mit linearer Textur versieht. Den
        vorläufigen Schlußpunkt dieser Haar-Bewältigungs-Geschichte bildet Geburtstag,
        ein Ölgemälde, das 1987, also neun Jahre nach Frau mit Eisbecher entsteht.
        Witzigerweise hilft die Frisur eines Landschaftsmalers[14],
        eines Spezialisten für Gestrüpp und Ruderalflora, bei der definitiven
        Formulierung des Phänomens „Haar“. Aber natürlich ist auch dieser
        Schritt eingebunden in den fortlaufenden, alle Erscheinungen umfassenden
        Differenzierungsprozeß: Im Fortgang dieser Entwicklung ersetzt Asmus
        die diffuse „Ideal“-Beleuchtung der frühen Bilder hier erstmals
        durch „reales“, in diesem Fall von links kommendes Seitenlicht, das
        die plastischen Gegebenheiten auf „natürliche Weise“ modelliert und
        zugleich für eine Anspitzung des Ausdrucks in Richtung Dramatik sorgt.
        Die per Licht imaginierte Außen-Situation wird präzisiert durch die
        Margeritenblüte, die der Wind auf die Tischplatte geweht hat und die
        flackernden, nahezu waagerecht am Docht hängenden Flammen, wobei es
        sich – auch dies eine von der landläufigen Vorstellung „Kerze“
        abweichende Konkretisierung! – um gedrehte, nach oben hin konisch
        zulaufende farbige Kerzen handelt. Sie stehen – und bilden eine Art Bühne
        für die drei dem Gesang obliegenden Kunststoff-Schlümpfe – auf einem
        selbstgemachten Kuchen. Selbstgemacht, denn die Marzipan-Beschichtung
        weist verräterische Dellen und Beulen auf, die aber dem Objekt unter
        plastischem Gesichtspunkt Attraktivität 
        verleihen und dem Geburtstagsgeschenk im Zusammenspiel mit der
        overdressed anmutenden Tortenspitze eine ambivalente Note geben. Auf den
        solcherart Geehrten scheint das Präsent genau
        so zu wirken, denn im ersten Moment kommt es zu einer zumindest
        leichten emotionalen Überflutung, ablesbar an den in verschiedene
        Richtungen fahrenden Gesichtszügen: Ein plastisches Phänomen der
        Extraklasse mit eingebautem V-Effekt! Daß
        die Frisur in etwa den Grad an Binnenvariation erreicht wie ihn Gesicht, 
        Arme und Hände des Porträtierten zeigen, dafür sorgen auf der
        inhaltlichen Ebene u.a. Licht und Wind. Aber auch bei der formalen Bändigung
        des Haares, die ja – der inneren Stimmigkeit wegen – den gleichen
        Stilisierungsgrad und Stilisierungsmodus (Primat der Plastizität)
        aufweisen muß wie Gesicht und Oberkörper etc., dürften die grelle
        Beleuchtung und der leichte Luftzug beteiligt gewesen sein: Unter
        Einwirkung von starker Helligkeit verschwimmt der Umriß eines
        Gegenstandes, und er verschwimmt auch, wenn Wind in Haar oder Fell fährt.
        Nichts Neues, vor allem nicht für Maler! Vor dem Hintergrund des noch
        immer nicht gänzlich gelösten Problems jedoch richtet sich die
        Aufmerksamkeit erneut auf dieses Phänomen: Wie sieht dieses Vibrieren
        der „haarigen“ Silhouette tatsächlich aus? Wie ist es umzusetzen,
        ohne daß der Eindruck kompakter Dinglichkeit verblaßt, der ja
        wesentlich durch die geschlossene Form mitbestimmt wird? [15]
        Asmus klärt das Problem, indem er – den „Vorschlag der Natur“
        aufgreifend – die Konturen der Binnenformen (Haarsträhnen) wie auch
        den Umriß anlöst. An die Stelle der extrem scharfen Trennung zwischen
        Figur und Fond, wie sie beim Haar der Frau
        mit Eisbecher noch zu sehen ist, tritt hier eine diffuse
        Zone: ein Sfumato, ein Mini-Verlauf vom Schwarz des Umrisses ins helle
        Ocker des Hintergrunds. Kurzum:
        Das grafische Phänomen „Haar“, das Asmus 
        seinem plastisches Konzept zunächst nicht einverleiben konnte,
        da er die Wucht der geschlossenen Form keinesfalls aufs Spiel setzen
        wollte, ist damit integriert. Und die Intensität des Anblicks bleibt
        erhalten! Hebammendienste der Kamera
        bei der Geburt des Neuen Realismus Tatsächlich erweist
        sich die Fotografie, die ab Mitte der 50er Jahre über die Print-Medien
        zunehmend stärker in Erscheinung tritt, als wesentlicher Faktor, da sie
        nicht nur die vielzitierte Veränderung der Sehgewohnheiten einleitet,
        sondern flächendeckend auch neue Ansichten altbekannter Erscheinungen
        präsentiert. Anders als unser visuelles Sensorium, das selektiert, lückenhafte
        Wahrnehmungen ergänzt, scheinbare Fehlmeldungen korrigiert etc., bietet
        die Kamera „objektive“ Aufnahmen der jeweiligen Sache: Was Licht
        reflektiert, ist auf dem Foto. Und das zeitigt Bilder der Wirklichkeit,
        die es vorher, ohne die Fotografie, nicht gegeben hat (darauf komme ich
        noch einmal zurück). So wird dieses Medium, indem es die für solche
        Prozesse erforderlichen Verfremdungseffekte liefert, zum Katalysator
        einer Wiederentdeckung der Realität. Daß
        diese „objektive“, diese andere Fixierung der Dinge abweicht von
        Bildern, wie sie bis dahin in der Großhirnrinde landeten, zeigt sich
        noch deutlicher, wenn zu der prinzipiellen Andersartigkeit die
        besonderen Darstellungsmittel der Fotografie hinzukommen, also Aufnahmen
        per Tele-
        oder Weitwinkelobjektiv; Vogel-
        und Frosch-Perspektive, Farbstichigkeit
        durch künstliche Beleuchtung, Kurzzeitbelichtung,
        Anschnitt, Ausschnitt usw. Wenn z.B. Katzen beim Spielen
        fotografiert werden und bei einem Sprung genau dieser Moment, die
        Hundertstelsekunde vor der Landung festgehalten ist und
        das Tier dadurch in ungewohnter Stellung erscheint, ergibt sich eine
        eigentümliche Verfremdung. Wenn bei Weitwinkel-Landschaftsaufnahmen der
        Mittelgrund fehlt, so daß die im Kopf sitzenden Größenverhältnisse
        durcheinander geraten, löst das Irritationen aus. Wenn man nachts, bei
        greller gelber Straßenbeleuchtung drei Frauen in bunten Kleidern
        fotografiert, während sie über den – nicht schwarz-weißen, sondern
        jetzt schwarz-gelben – Zebra-Streifen laufen und die Figuren im Foto
        in spezieller, ja sogar falsch wirkender Farbigkeit auftauchen, wandelt
        sich eine Allerwelts-Situation in einen fast schon fantastischen Moment!
        Immer, und das verbindet die drei Beispiele, tritt folgender Effekt ein:
        Ausgelöst durch die andere, objektive Sicht der Kamera,
        erscheinen alltägliche Dinge fremd und neu. Und das geschieht nicht nur
        einmal pro Monat, sondern permanent, zumal unser Sensorium,
        „angeleitet“ durch das Foto, entsprechende Momente/Situationen bald
        auch live wahrnimmt. Man kann sich vorstellen, daß Asmus, entsprechend
        disponiert, auf visuelle Reize solcher Art heftig anspricht und daß
        deren Auslöser – die Stilmittel der Fotografie – von Beginn an
        seinem Gestaltungsrepertoire eingebunden sind: intuitiv genutzt während
        der Formfindungsphase, später gezielt eingesetzt, wobei eine
        Funktion, die nämlich, durch integrierte
        Stilelemente fotografischer Herkunft via Verfremdung Aufmerksamkeit zu
        evozieren, auf den ersten Blick erkennbar ist: Mädchen
        mit Sektglas, Sightseeing-Flug,
        Sensationsdarstellerin
        (zu Pferd). Im Grunde aber ist der V-Effekt, der „den Stein wieder
        steinern“ macht (Viktor Sklovskij), der, anders gesagt, Dinge (s.o.)
        überhaupt wieder in den Fokus ästhetischer
        Wahrnehmung rückt, jeder Grafik, Zeichnung, jedem Gemälde
        implantiert: über die beschriebene Funktion hinausgehend als omnipräsenter
        Ausdruck einer neuen Sicht der Dinge. Denn tatsächlich wird – sieht
        man davon ab, daß die Abstraktion irgendwann ihr Verfallsdatum erreicht
        hatte [16]
        – der intensive, neue Blick auf die Erscheinungen der Wirklichkeit und
        damit auch die Renaissance der realistischen Malerei ganz entscheidend
        durch die Kamera ausgelöst: In ihrer Funktion als Verfremdungsmaschine,
        wie gesagt, aber vielleicht mehr noch aufgrund eines zweiten
        Wirkungsfaktors: Via Nahaufnahmen
        in Kurzzeitbelichtung werden Bereiche erschlossen, die bislang außerhalb
        unserer Beobachtungsmöglichkeiten lagen und das gilt ebenso für Phänomene,
        deren Erfassung erst über die Verkoppelung
        von Kamera, Vergrößerungsgerät bzw.
        Teleskop gelingt.  Details mit Sensations-Appeal, die etwa ein „in der Luft
        stehender“ Wasserspritzer zum besten gibt oder die Möwe im Sturzflug
        in der letzten Hundertstelsekunde, bevor sie die Brotkruste erwischt!
        Der Blick aus dem Orbit und die faszinierende Entdeckung identischer
        Formprinzipien bei Wasseroberflächen z.B., Wolkengebilden, Wüstenlandschaften
        und dem Arm einer Greisin im Krankenzimmer! Die strukturellen Ähnlichkeiten
        zwischen Phänomenen im Makrokosmos und 
        Mikrokosmos des Menschen, die einen berühren können wie tief
        eindringende Musik usw. usf. Daß unter dem Eindruck solcher (inzwischen
        ja durchaus kollektiver) Erfahrungen das Bedürfnis nach neuer
        Orientierung, neuer Wertstellung der konkreten Erscheinungen, der
        Artefakte wie der Naturdinge, anschwillt, mithin auch das Verlangen nach
        neuen Bildern, wird vor diesem Hintergrund verständlich: Der Neue
        Realismus konnte gar nicht anders, er mußte entstehen!  Das
        Spezifische des Neuen Realismus 1.    
        Schon bei der Implementierung des inneren Bildes fällt auf, daß
        sich Empfindungen wie Angst, Hilflosigkeit, Schutzbedürfnis etc. trotz
        der desaströsen Umstände jener Juli-Nacht 1943 offensichtlich nicht
        mit eingeprägt haben. Eine emotionale Signatur haben allein die
        Komponenten des puren visuellen
        Tatbestands hinterlassen.   2.    
        In sämtlichen Arbeiten der Formfindungs-Phase, von den noch an
        Jean Dubuffet orientierten Gestaltungsversuchen bis hin zu den ersten
        eigenständigen Bildern, geht es darum, Darstellungsmöglichkeiten für
        die mittels ästhetischer Wahrnehmung erlebte schiere
        Präsenz der Dinge zu erarbeiten. Was Gegenstände und Figuren zunächst
        noch an  Deformationen,
        Art-Brut-Elementen, auch an modischem Aufputz wie Flächigkeit oder „peinture  à la École de Paris“ mitführen, Ausdruckselemente also
        einer anderen Kunst- bzw. Bildvorstellung, verschwinden aus Asmus´
        „Baukasten“. Sie werden ersetzt durch neue, noch nicht abgenutzte,
        relativ konnotationsfreie Bildmittel.[17]    3.    
         Plastizität der
        Objekte, gesteigert durch flächigen Hintergrund; Lokalfarbe und ihre
        spurenlose Vermalung; Mittelkomposition bei einfachen räumlichen
        Gegebenheiten; generell: konstruktive (nicht optische) Erfassung der
        Gegenstände und anatomische Richtigkeit der Figuren etc: der so
        erzielte Ausdruck ist, wenngleich das immer wieder passierte, weder mit
        Neuer Sachlichkeit, Popart, kritischem Realismus, Fotorealismus oder gar
        altmeisterlicher Malerei in Verbindung zu bringen, sondern zielt ab auf
        eine zeitgenössische bildhafte Vermittlung einer die Wirkung des Dinglich-Konkreten betreffende essentielle Erfahrung:   4.    
        Wenn Asmus in Möwenfütterung
        das Tier, freigestellt vor grauem Himmel, in exaltierter, Gier und
        Grazie verkörpernder Flugbewegung, nahezu senkrecht nach unten auf die
        mit ausgestrecktem Arm hoch in die Luft gehaltene Brotkruste zustürzen
        läßt, den Vorgang also in bis dahin nie gesehener Zuspitzung zeigt, so
        daß der Vogel – freigestellt auch im übertragenen Sinn –
        abstreift, was ihm zur Veranschaulichung verbal-begrifflicher Entitäten
        angehängt wurde und uns, die Betrachter, durch nichts anderes als seine
        phänomenale Faktizität beeindruckt, verstehen wir, was mit
        „essentieller Erfahrung“ gemeint ist: Das Bild „berichtet“ über
        ein ästhetisches Erlebnis des Künstlers, von dem 
        Erlebnis nämlich der – so hat Franz Kafka einmal diesen
        Zustand beschrieben – physischen  Anwesenheit
        eines fremden Lebewesens im eigenen Körper.    5.    
        Anderes Beispiel - Kind und Katze: Ein kleines Mädchen hat sich ein Erwachsenenhemd rundherum in die
        Hose gesteckt und eine selbstbemalte, mit Öffnungen für Mund und Nase
        versehene Packpapiertüte über den Kopf gezogen. Steht nun in Strümpfen,
        einen Fuß wenige Zentimeter vorgeschoben und verharrt irritiert,
        unsicher  – die 
        Augenlöcher scheinen nicht zu passen – auf  dem glatten kleinteiligen, offenbar rutschigen Boden. Die Arme
        sind angewinkelt und tastend nach vorn gerichtet. Die Figur
        vermittelt den Eindruck einer leichten Desorientierung. Sie verhält
        sich wachsam, vorsichtig, und es entsteht – in Verbindung mit dem
        diffusen Hintergrund – eine von der Normalität abweichende Atmosphäre,
        eine stimmungsmäßige Veränderung, die von der Katze links neben dem
        Kind ausdrücklich bestätigt wird! Auch
        hier benötigen die Bildmittel nicht den Kopf als Relais-Station,
        sondern wirken unmittelbar über das Sensorium auf den Betrachter ein:
        Die leichte, nach rechts weisende Neigung der Figur, verstärkt durch
        die angewinkelten Arme und die etwas zur Seite gekippte ca. 70 cm hohe
        Papiertüte, deren Faltlinien die angedeutete Schräglage des Körpers
        aufnehmen und geringfügig übertreiben sowie der bewegte, viel Volumen  entfaltende
        Hemdenstoff, der durch seine Masse und spürbare Eigendynamik das
        Gleichgewicht zu stören scheint, sorgen – zumal 
        außerdem die Füße keine den Stand „sichernden“ Schatten
        werfen – für einen instabilen Zustand. Für Sekundenbruchteile wird
        diese Befindlichkeit im Betrachter generiert, so daß er die körperliche
        Verfassung des Kindes quasi in sich spürt, d.h. kurzfristig zum (in
        den) Erlebensmodus des Kindes zurückkehrt. 6.    
        Weiter: Das Krankenzimmer
        zeigt eine typische Kamera-Sicht. Vom Kopfende aus so aufgenommen, daß
        von der im Bett liegenden Patientin, einer offenbar sehr alten Frau, nur
        deren Hände und Arme und, angeschnitten, die weiten Ärmel des
        maschinengebügelten Krankenhaus-Nachthemds im Bild sind, ist
        dargestellt, wie die Liegende versucht, sich mit Hilfe des Triangels
        aufzurichten. In den Armen – diskretes pars pro toto – kommt die
        Befindlichkeit der Greisin zum Ausdruck, vermittelt durch die
        „Ansprache“ der Form und entsprechende Resonanzen auslösend, so daß
        wir, die Betrachter diese uns fremde Innerlichkeit leibhaftig empfinden.
        Was diese per Kunstwerk kommunizierte ästhetische Erfahrung des
        weiteren anbietet – konkretisiert am Beispiel dieses Motivs – weist
        über den dargestellten Einzelfall hinaus:                                                                                                                      In
        dieser offenbar letzten Phase ihres Lebens kommt die Individualität der
        Person, und zwar über die dezidierte Präsenz altersspezifischer
        Gegebenheiten, der Narben also, der Pigmentstörungen, Austrocknungen,
        der hervortretenden Adern, Sehnen, Knoten etc. noch einmal und auf
        bewegende Weise zum Vorschein, wobei der Eindruck von Singularität
        gesteigert wird durch die zwei abstrakten, akkurat an der Wand hängenden
        Allerweltsgrafiken. Die gleichen Details aber, eben noch untrennbar
        verschmolzen mit der  konkreten individuellen Erscheinung "Arm", bringen
        dann, Sekundenbruchteile später, die Assoziationen auf einen gänzlich
        anderen Kurs, in Richtung Landschaft nämlich, zu Dünen, Treibholz,
        trockenem Schlick; zum Rücken einer Kröte, Echse, zum Kopf einer
        Schildkröte. Im Moment also der allerdeutlichsten Ausprägung werden
        die Formen, in denen sich der Zustand des Einzeldings manifestiert,
        adoptiert; adoptiert von einer allgemeinen Struktur. In der Morphografie
        der Hände und Arme wird Tod nicht als unfaßbares Ende, sondern –
        antizipiert in der bildnerischen Formulierung – als Vorstellung einer
        Transformation begreifbar: Die Metapher (und damit auch der Trost, den
        dieses Bild bereithält) steckt weniger im Sujet, sondern primär in der
        Form. [18] 7.    
        Ad hoc läßt einen Schmetterling
        im Aufwind  an
        die von Asmus beschriebene Situation denken, in der sich sein inneres
        Bild konstituiert: „Vollplastische Gegenstände, farbig stark
        beleuchtet […], vom Himmel freigestellt, in langsamer Bewegung
        freischwebend im dreidimensionalen Raum.“ Zwar fällt der Blick
        hier nicht von unten nach oben, sondern umgekehrt, aus der
        Vogelperspektive runter auf die Wolkenkratzer, aber alle der genannten
        Bild-Elemente sind geradezu idealtypisch vorhanden, wobei der
        Schmetterling – wenn man so will – das Schweben repräsentiert.[19]
         Identisch oder fast identisch mit der
        Urprägung – und damit zum Motiv wird dieser
        Stadtlandschafts-Ausschnitt durch das nahezu waagerecht einfallende
        Abendlicht, durch die schräge Draufsicht und einen optimalen
        Blickpunkt: Von oben und über Eck gesehen, nimmt man von den meisten
        Gebäuden drei Seiten wahr, erfaßt sie mithin als  plastische Gebilde,
        erfaßt auch den Raum, der sie umgibt. Das Bild entfaltet einen
        bemerkenswerten Sog, wobei man versuchen kann, einzelne Faktoren dieser
        im Verbund wirkenden Anziehungskraft zu benennen:  Das Auge rutscht nicht ab an glatten,
        spiegelnden Flächen, sondern es bieten sich diverse, höchst attraktive
        Anhalts- und Aufenthaltspunkte, die zu Entdeckungen einladen.                                                                    Keines der Hochhäuser gleicht dem
        anderen, weist vielmehr eine unverwechselbare Physiognomie auf, was die
        Orientierung erleichtert.  Allesamt funktionieren sie auch
        optisch. Fernsehtürme mit Panoramarestaurant etwa, die Unbehagen auslösen,
        weil der Schwerpunkt zu hoch sitzt oder ähnlich verkorkste,
        Fluchtinstinkte auslösende Objekte sind nicht im Bild.                                                                    
         Affinitätssteigernd wirken zudem die
        zahlreichen Details, die Auskunft über die Nutzung bestimmter Gebäudeteile
        geben, zumindest Vorstellungen zu deren Funktion evozieren. Das
        Innenleben wird nicht hinter abweisenden Fassaden versteckt, sondern
        kommt via Gestalt zum Ausdruck.                                                                                             Obwohl es sich um Wolkenkratzer
        handelt, wirken sie – auch wegen der  im
        Licht auflodernden Gebäude, wegen des schroffen Wechsels von Schatten
        und Helligkeit, dank der aufblinkenden Fenster des gelben Wohnturmes und
        des illuminierten Waldareals – wie phantastische Gewächse in einem
        Garten: eine „bewohnbare Vision“, mitgeprägt durch eine Atmosphäre,
        die man als magisch-sakral bezeichnen kann und Assoziationen u.a. in
        Richtung „Diû himilisge gotes
        burg“/„Himmlisches Jerusalem“ auslöst.                                       Aber was über Möwenfütterung, Kind
        und Katze und die Frau im
        Krankenzimmer gesagt wurde, gilt natürlich
        auch hier. Der Königsweg der Bild-Wahrnehmung? Wie Kleinkinder das
        einer bestimmten mimischen Geste zugrunde liegende Gefühl (der Mutter)
        intuitiv spüren, so könnte der Betrachter hier über die Wahrnehmung
        der Formen jener architektonischen Situation deren innere Befindlichkeit
        spiegeln bzw. unterschwellig
        aufnehmen: als Ingredienzien einer den Hochhaus-Komplex
        charakterisierenden Gesamtatmosphäre und verbunden u.U. mit dem Gefühl,
        körperlich spürbar in diese Atmosphäre eingebettet zu sein. Der
        Kulturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht nennt diesen durch ein ästhetisches
        Erleben ausgelösten Zustand mit Bezug auf eine umgangssprachliche
        englische Redewendung „to be in synch with the things of the world“.   Die
        Visionen des Neuen Realismus Dinge werden in der
        gegenständlichen Malerei oft nur als Vehikel genutzt: zur Vermittlung
        sozio-kultureller Befunde (Kritischer Realismus), zu Reflektionen über
        das Lichtbild (Fotorealismus), für die Inszenierung surrealer
        Vorstellungen, zur Beförderung von Metaphern und Symbolen oder –„Painting
        the Painting“ – um den Akt des Malens darzustellen. Der neue
        Realismus à la Asmus hingegen rückt – gegen die überbordende
        Dominanz  begrifflich
        orientierter „Knowledge Production“ – den Gegenstand selbst ins
        Zentrum: als phänomenales Faktum in seiner dinglich-konkreten Wirkung.
        Angesichts der Tatsache, daß bestimmte, auf unvermittelter Begegnung
        mit sichtbarer Wirklichkeit fußende Komponenten unseres Weltbildes
        durch fortschreitende Rationalisierung und Digitalisierung vom
        Verschwinden bedroht sind[20],
        gewinnen Asmus´ Arbeiten zunehmend an Bedeutung: als Versuch nämlich, 
        solche spezifischen Erfahrungsbestände dem Bewußtsein zu
        sichern!  Der Gegenstand erscheint nicht als
        Abbild, sondern im Bild: auf Ausdruck hin stilisiert. Asmus´ Malerei
        vermittelt, was die ästhetische Erfahrung, d.h. den oben erwähnten
        Zustand ausgelöst hat, über die Form
        der Darstellung. Als bildgebende Prozedur, die jene wortlosen
        Botschaften von Naturdingen und Artefakten in Formensprache umsetzt und
        somit ein Kunsterlebnis evoziert, besitzt dieses Verfahren 
        – trotz seiner bis ins Mythologische zurückreichenden Wurzeln
        – die Faszination und Frische absoluter Gegenwärtigkeit. Das
        allerdings nur, wenn es wie hier dem individuellen Gestaltungstrieb,
        dessen Entfaltung  eng mit
        der je aktuellen Selbst- und Weltwahrnehmung verknüpft ist, angepaßt
        wurde: Die Erfahrungen der Abstraktion in petto, hat Asmus die
        Bildmittel einem grundlegenden Tauglichkeitstest unterzogen und deren
        Ausdrucksmöglichkeiten erweitert, zum Gebrauch für das 20.Jahrhundert
        ff. nachjustiert ! Und diese Reaktivierung markiert  eine
        Zäsur: Hier beginnt der neue Realismus, der Realismus nach
        der klassischen Moderne. Er beginnt mit einer neuronalen
        Verschaltung, d. h., mit der Entstehung 
        eines inneren Bildes. Das künstlerische Originalität sichernde
        Ereignis schlechthin! Seit je her gehören die „innere Gestalt“ (Plotin),
        die „Vision“ (Michelangelo), das „Bild des geistigen Auges“ (C.
        D. Friedrich) zu den konstituierenden Faktoren malerischer Produktion
        – bis in die jüngste Vergangenheit. Inzwischen jedoch, mit wachsendem
        Einfluß der Kuratoren in Sachen Kunstproduktion, sind Dürers „inwendige figur“ und deren Brüder und
        Schwestern im Geiste aus dem Diskurs verschwunden, wobei es, nebenbei
        gesagt, zu einer kuriosen Koinzidenz kommt: Während die umfassende
        Bedeutung der „innen vorhandenen Gegebenheiten“ (Keppler) seitens
        der Naturwissenschaften im Zusammenhang mit kreativen Prozessen 
        zunehmend deutlicher erkannt wird,[21]
        haben sich die exponierten Künstler der Gegenwart von dieser Möglichkeit,
        über veränderte, durch das Vor-Bild endogener Visionen angeregte
        Formen den Blick auf die Welt zu erneuern, weitgehend verabschiedet. Bei
        Asmus fungiert die „inwendige figur“ weiterhin als Platzhalter für
        die nicht quantifizierbare Dimension der Wirklichkeit, für künstlerische
        Wahrheit, die hier in kraftvoller Eigenwilligkeit formuliert ist.  Im inneren Bild sind unbewußt
        registrierte Wahrnehmungen und – eingebunden in die entsprechende
        Matrix – die dabei auftretenden Emotionen gespeichert. Im Zuge des
        Malvorgangs fließen diese unterschwellig angelegten Befunde in die 
        Formulierungen des „Hand-Auge-Apparates“ ein, werden zum
        Bestandteil des Gemäldes, d. h., zu Mitinitiatoren des
        Kunsterlebnisses, das uns kurzfristig in jenen Zustand („to bee in
        synch …“) der Identität von Ich und Welt versetzen kann: Diesen
        Erfahrungsmodus heutzutage im Spiel zu halten, ist bedeutsam an sich!  Daß solche nicht-rationalen Aspekte
        unseres Welterlebens allein via Kunst das Bewußtsein erreichen, läßt
        sich über den Kontakt mit Asmus´ Arbeiten in Erfahrung bringen.
        Initiiert durch die Faszination des Realen, getragen von der formalen
        Energie revitalisierter Bildmittel, die unsere Gefühlsareale bis hin
        zur verstörenden mentalen Attacke aufmischen, offerieren seine
        hochverdichteten  Bilder ästhetische
        Begegnungen mit Wirklichkeiten, die erst das 20. Jahrhundert 
        hervorgebracht bzw. zugänglich gemacht hat.      [1] „Lieber Maler, male mir …“. Radikaler Realismus nach Picabia. Katalog. Wolfsburg 2003 [2] Elisabeth Binder, Der Wintergast, Stuttgart 2010 [3] Strukturell vergleichbar mit der Historienmalerei des 19, Jahrhunderts. [4] Vergl. Gespräch mit Wolfgang Becker anläßlich der Aachener Ausstellung (Neue Galerie, Sammlung Ludwig), 1972 [5] Vgl. Armin Schreiber, Wenn es plinkt- Über das Kunsterlebnis im neurobiologischen Zeitalter, in: Merkur 721, 2009, S. 487- 496 [6] Neurologen sprechen in dem Zusammenhang von Erwartungsbildern [7] Visionen des Wirklichen, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Städtische Galerie im Park, Viersen, 2001 [8] Zur Erinnerung: Ich achte auf die Pfütze, damit ich keine nassen Füße bekomme (pragmatische Wahrnehmung); ich sehe den schillernden Ölfleck, die Spiegelung der Wolken auf der Wasseroberfläche etc. (ästhetische Wahrnehmung). [9] Vergl. Dieter Asmus, „Betreten Verboten“, Texte auf dieser Homepage [10] Der Maler Heiner Altmeppen spricht in dem Zusammenhang vom „aktuellen Erlebnis der individuellen Grundmuster oder Urbilder“. [11] Max Doerner, „Malmaterial und seine Verwendung im Bilde“, auf dem Markt seid 1921 [12] Noch mein erster Besuch bei Dieter Asmus (1968) fand im Zeichen von mildem Tee und ebenso milden Reiswaffeln statt. [13] Bemerkenswert: Asmus überzieht das jeweilige Motiv nicht mit einer farbigen Lasur, sondern malt die Abtönungen alla prima, d.h., er verändert die Lokalfarbe bereits auf der Palette. [14] Das Motiv zeigt den Maler Bernd Schwering, der mit Dieter Asmus einige Tage auf der Insel Elba verbrachte. [15] Aus diesem Grund wird z.B. die Brille in Mädchen vor Badekabine (1973) durch einen Reflex auf dem Glas undurchsichtig. Durchsichtigkeit hätte – so die damalige Vorstellung – den Eindruck „geschlossene Form“ gestört. [16] Mit großer Wahrscheinlichkeit spielten auch die Erfindung und massenhafte Produktion neuer Geräte und Maschinen in neuen Materialien und anderen Farben ein wichtige Rolle, einfach, indem sie auftauchten in der Realität, aber nicht vorhanden waren in der Bildenden Kunst. [17] Hier auf Picasso verweisen [18] Siehe S. 15 im Kapitel „Hebammendienste …“ [19] Dessen eigentliche Funktion besteht jedoch vor allem darin, den Raum erfahrbar zu machen, sowie durch Form, Farbe und seine Lebendigkeit die Atmosphäre der dargestellten Situation zu präzisieren. [20] Darauf hat bereits in den 70er Jahren der Philosoph (und Begründer der Neuen Phänomenologie) Hermann Schmitz hingewiesen.   [21] Vielfach bezieht man sich dabei auf Wolfgang Pauli (Nobelpreis für Physik 1945), der „ ein malendes Schauen dieser inneren Bilder“ als die Vorstufe des Denkens bezeichnete. Von Albert Einstein ist bekannt, daß er einige seiner großen Erkenntnisse über bildhafte Vorstellungen gewonnen hat. Interessant in dem Zusammenhang: Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, Göttingen 2006 
 
        
        
         
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