Armin Schreiber |
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Was ist neu am Neuen Realismus? |
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Zu den Arbeiten von Dieter Asmus |
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Realismus
– ein Mysterium? 1.
Eine der bemerkenswertesten Verlautbarungen, die Anfang der nuller Jahre
die Runde machte, entstammte dem Katalog einer damals
vielbeachteten Ausstellung zum Thema „Radikaler Realismus“ in
Wolfsburg: „Die figurative Malerei“, hieß es da, „hat ihre
Lesbarkeit eingebüßt“.[1] 2.
Keine andere Kunstrichtung ist stärker von Mißverständnissen
durchwuchert als der Realismus, gerade auch auf kunstwissenschaftlicher
Ebene: Historische Restbestände aus den Zeiten der „bataille réaliste“
und neu hinzugekommene Verkennungen und Verwechslungen! Sie lenken den
Blick potentieller Betrachter auf Aspekte, deren Wahrnehmung für das,
was auf dem Bild tatsächlich zum Ausdruck kommt, in der Regel ganz und
gar irrelevant ist. Zu den diesbezüglichen Dauerbrennern gehört die
Phantasmagorie „objektive Wiedergabe“. So wird – jüngstes
Beispiel – im Katalog-Text zur Realismus-Ausstellung „Abenteuer
Wirklichkeit“ (Emden, München, Rotterdam) die Problematik erörtert,
„der ein Künstler gegenübersteht, wenn er sich zum Ziel setzt,
Wirklichkeit möglichst objektiv ins Bild zu transformieren“. Ich
kenne keinen Künstler, der dieses Ziel verfolgt. 3.
Denn nicht um objektive Übertragung geht es, sondern – kurz gesagt
– um das Herstellen einer
visuellen Mitteilung über den Eindruck, den ein höchst subjektiver
nuancierter Kontakt mit der Wirklichkeit beim Künstler hinterlassen
hat. Was sich bei einem solchen Kontakt abspielt, beschreibt Elisabeth
Binder in ihrem Roman Der
Wintergast, in dem erzählt
wird, wie ein Künstler seine Ladehemmung überwindet. Auf einer
Bergwanderung fühlt er plötzlich, dass mit seinen Augen etwas vorgeht:
„Als erwache er gerade aus einer Taubheit. Als habe man ihm, wie in
der Kindheit ein paarmal die Ohren, soeben die Augen ausgeblasen. […]
Es war, als sei eine Trennscheibe zwischen ihm und dem Bild lautlos
zersplittert. Es gab nicht mehr: ihn hier – und dort das Bild. Er war
draußen oder das Bild in ihm drinnen, fiel in ihn hinein, füllte ihn
vollkommen aus. Als sei er selbst – und ein paar Sekundenlang, während
er nichts dachte, war er es
selbst: der Fels, glatt geschliffen und feucht glänzend, und das
Geflecht der Wasseradern – Während
er doch gleichzeitig alles sah, lebendig wie nie zuvor. – Das dauerte
vielleicht nur ein paar Herzschläge lang. Dann verging es wieder.“[2] 4.
Kunst ist der Versuch, solche Momente ästhetischer Erfahrung via Bild
kommunizierbar zu machen. Wenn er gelingt, kann das Bild beim Besucher
eine Resonanz auslösen. Im besten Fall entspricht sie der Empfindung,
die den Maler angesichts des ersten Kontakts mit dem Motiv selbst erfaßte,
wobei die Nachwirkung dieser Empfindung durchaus auch zu neuen,
sinngebenden Verbindungen mit den „Dingen der Welt“ führen kann. 5. Hervorgerufen wird dieses mentale Echo, das also, was von Alexander Gottlieb Baumgarten im 18. Jahrhundert „ästhetisches Erlebnis“, später allgemein dann auch „Kunsterlebnis“ genannt wurde, nach wie vor durch die Form der Darstellung: Für die Rezeption der Bilder von Dieter Asmus, deren Entstehung an dieses Axiom geknüpft ist, ein doppeltes Dilemma! „Die
Kunst ist Form, oder sie ist nicht!“ Eine Sentenz
zur Bedeutung der Form wie dieses Bonmot von Gottfried Benn haben die
meisten im Kopf, das Phänomen
„Form“ jedoch ist, wie bereits Goethe konstatierte, „ein Geheimnis
den meisten.“ Und zu „den meisten“ muß man inzwischen auch viele
der gegenwärtig tätigen Kuratoren rechnen. Durch die permanent
fortschreitende Diskursivierung der Kunst, die primär begrifflich
vorgegebene Inhalte aus Ethno-, Sozio-, Öko- und Ökologie etc.
visualisiert[3],
kommt es zur stillschweigenden Suspendierung der Form als dem konstituierenden Faktor. Das Gespür für ihre basale Bedeutung
geht auch bei Ausstellungsmachern verloren, da sie die „in Form
gebrachte“, nicht diskursivierbare bildhafte Expression einer bis dato
unbekannten Erfahrung in ihre Ausstellungs-Konzepte offenbar nicht
einbinden können. Indirekt bestätigt Roger Buergel, Kurator der 12.
Documenta, die weitgehende Ausblendung der Formfrage, indem er
feststellt, „daß es allgemein einen kompletten Analphabetismus gibt,
was ästhetische Formen betrifft“, wobei auch ihm – auch er Opfer
einer „déformation professionelle“ – nichts Besseres einfiel als
diese Einsicht in die Bekanntmachung eines soziokulturellen Phänomens
umzumünzen: Er präsentierte Dokumente zur „Migration der
Form“. 6.
Zweifellos wird der Ausstellungsbetrieb weiterhin mit diesem
„kompletten Analphabetismus“ kooperieren. Das zeigt die
Einweihungs-Zeremonie des ersten Kunstwerks der dOCUMENTA (13) am 21.
Juni 2010 im Auepark: Niemand widerspricht dem Künstler Giuseppe Penone,
auch die Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev nicht, als er zu seiner
Plastik „Ansichten eines Steins“ folgendes mitteilt: „Wenn die
Bedeutung des Malens das Bedecken ist und die Bedeutung der
Skulptur das Entdecken, dann wird die Malerei durch die
Schwerkraft charakterisiert und die Skulptur durch die Kraft, die der
Schwerkraft entflieht, die Kraft des Lichts.“ Quatsch? Oder einfach
nur ein Diskurs-Beitrag alla „arte povera“?
Über eine Skulptur,
die als Markierung „auf dem Weg zur dOCUMENTA (13)“ figurieren soll,
wird gesprochen, aber die Vokabel „Form“ kommt nicht vor! 7.
Um – vor diesem Hintergrund – Dieter Asmus und seine Version eines
Neuen Realismus zu verstehen, muß man noch einmal zu den Anfängen zurückgehen.
„Die Kunst ist abstrakt
geworden“? Ende der 60er Jahre, als die Bilder des Neuen Realismus von Dieter
Asmus in der Öffentlichkeit auftauchten, nannte er Konrad Witz und die
Fotografie als entscheidende Bezugspunkte seiner Malerei. Einen Maler
der „ars nova“ also, des Übergangs zwischen Spätgotik und Frührenaissance,
in dessen Werk die Hinwendung zu den konkreten Gegebenheiten der
Wirklichkeit überaus plastisch zum Ausdruck kommt und – als wichtigen
Impuls der Gegenwart – die per Kamera entdeckten, bis dahin nicht
wahrgenommenen Erscheinungen der Realität. Der entscheidende Faktor jedoch, das, was Albrecht Dürer
„inwendig voller figur“ nannte oder Oskar Kokoschka „Visionen von
zwingender visueller Überzeugungskraft“ und Asmus selbst später als
die „formstiftende Suggestion von Bildvorstellungen“ bezeichnete,
blieb damals unerwähnt, weil er – so Asmus heute – diese Vorgabe
als Basis und Antrieb einer jeden ernsthaften künstlerischen Tätigkeit gesehen hat, die man
nicht extra hervorheben mußte. Über die Lektüre des von ihm mitverfaßten Manifests der Gruppe
ZEBRA (1964/65) ergibt sich eine weitere Erklärung: In den ersten
Zeilen dieser Verlautbarung wird vehement gegen die Kreationen der
Tachisten, gegen deren „Seelenlandschaften“ und alles Zufällige,
Individuelle, Anekdotische gewettert.
Und dann heißt es unter Punkt 7: „Es geht in diesem Moment der
Malerei um die komplexe Neuerstellung von Dingen im Bild […], ohne auf
die vorabstrakte Malerei zurückzugreifen.“ Angesichts dieser
Formulierung wäre ein Verweis auf „innere Bilder“, die man
mainstreamgemäß jenen „Seelenlandschaften“ zuordnet hätte, wenig
hilfreich gewesen, zumal das unerwartete Anrücken eines neuen Realismus
ohnehin für Konfusion in der Kunstszene sorgte. Hatte doch Werner Haftmann, allseits geachteter Experte, erst 1959,
und zwar per documenta-Statement, festgestellt, die Kunst sei abstrakt
geworden! Und plötzlich kamen – vielfach nicht als Notwendigkeit,
sondern einzig als Provokation empfunden – in der Malerei wieder Dinge
zum Vorschein: Ein verwirrender Tatbestand! Ein Affront, angesichts
dessen formal-ästhetische Aspekte, wenngleich sie im Manifest konkret
benannt, zudem in Interviews[4]
ansatzweise auch erläutert waren, nur oberflächlich registriert
wurden. Dabei hatte während des Booms der Abstraktion in den 50er
Jahren kaum etwas anderes zur Debatte gestanden als die
Auseinandersetzung mit formalen Fragen. Der Transfer jedoch der dabei
erworbenen Lesefähigkeiten war offensichtlich blockiert.
Künstlerpech einer besonders finsteren Version!
Denn gerade in der Form, im Modus ihres Erscheinens,
steckten Novum und Brisanz dieser wieder ins Bild tretenden Gegenstände! Das
innere Bild als Kompaß Jeder Künstler (produktive Künstler und nicht „Nachempfinder“)
müsse, so heißt es bei Kandinsky, die Formfrage individuell klären.
Bei diesem Prozeß, an dessen Ende Dieter Asmus die Ausdrucksmittel
eines neuen Realismus gefunden hat, fungiert als Kompaß die oben erwähnte
„inwendige figur“. Was hat es mit diesen speziellen neuronalen Verschaltungen, mit den
„inneren Bildern“, mit den „Bildern des geistigen Auges“ (C. D.
Friedrich) auf sich und worauf basiert ihre formstiftende Suggestion? In
rudimentärem Zustand existieren derartige Bilder ab ovo und ihr Ausbau,
ihre Modifikation und Erweiterung setzt bereits im pränatalen Stadium
ein: Zunächst evoziert durch Reize aus dem Mutterleib, später durch
Informationen aus der Umwelt. Relativ sicher ist, daß sich die für ästhetische
Wahrnehmung relevanten Muster zwischen dem 3.
und 5. Lebensjahr ausbilden, im Verlauf der entscheidenden Phase
organischer Gehirnreifung also. Daß sie im Gehirn nicht zu lokalisieren
sind, sondern arealübergreifend als synchrone Zustände von Millionen
verteilter Nervenzellen existieren, weiß man inzwischen; nicht dagegen,
wie diese individuelle Matrix
zustande kommt. Wissenschaftliche Untersuchungen gibt es darüber nicht, aber es
gibt Künstleräußerungen über den Ort des Geschehens, über die besonderen Umstände
und atmosphärischen Gegebenheiten etc., wobei nie der Hinweis fehlt, daß
man diese Momente als Augenblicke von höchster emotionaler Dichte
erlebt.[5] Darauf angesprochen, ob bezüglich seiner Formvorstellungen ein
solches Schlüsselerlebnis existiere, berichtet Asmus von einer
Begebenheit aus dem Sommer 1943, wo er – ausgebombt in Hamburg – mit
seiner Mutter in einen Dorf an der Ostsee wohnte: „Da wir nachts wegen
der Hitze und des pausenlosen Anflugs der englischen Bomber auf Kiel, in
deren Schneise wir lagen, nicht schlafen konnten, standen wir alle im
Nachthemd vor dem Haus und sahen auf die brennende Stadt. Eins der zurückkehrenden
Flugzeuge, das offenbar noch vor dem Abwerfen seiner Last von der Flak
angeschossen worden war, erleichterte sich dadurch, daß es seine Bomben
einfach fallen ließ. Wir wurden vom Druck einer Luftmine auf den Rücken
geworfen. So konnte ich sehen, wie das hinter uns liegende zweistöckige
Gründerzeithaus mit den sehr hohen Schornsteinen regelrecht umklappte,
wobei die Schornsteine einen Moment lang in der Luft stehenblieben, um
sich dann in einzelne Ziegel aufzulösen, die, sich drehend, nach und
nach, wie in Zeitlupe, neben uns ins Gras klatschten. – Dies
ist eine meiner einprägsamsten Kindheitserinnerungen. Nicht, weil ich
mich in Lebensgefahr befand, sondern weil dieser Anblick geradezu
idealtypisch meiner inneren Negativform[6] entsprach, wie mir später
als Künstler bewußt
wurde: vollplastische Gegenstände, farbig stark beleuchtet durch die
Flammen, vom Himmel freigestellt, in langsamer Bewegung
freischwebend im dreidimensionalen Raum.“[7] Der
Beschreibung nach handelt es sich – angedeutet in der Schlußsentenz
– um einen besonderen Moment
ästhetischer Wahrnehmung[8], der dem Kind vermittelt,
in welchem Erscheinungsmodus die Dinge der Welt speziell ihm
den ultimativen Zugang, das Erlebnis ihrer Evidenz, ihrer Schönheit
anbieten und der wohl auch den entscheidenden Impuls zu späterer Kunsttätigkeit
setzt. Die Situation prägt sich als sog. Blitzlicht-Erinnerung dem
episodischen Langzeitgedächtnis ein. Natürlich
wird sie zu dem Zeitpunkt nicht reflektiert, bleibt aber unterschwellig
wirksam, liegt gewissermaßen auf der Lauer: In dem Augenblick, in dem
dem Betreffenden eine (strukturell) vergleichbare Figuren- oder
Dingkonstellation vors Auge kommt, erfolgt eine besonders intensive
Reaktion. Interessanterweise treten solche ästhetischen Euphorien auch
dann ein, wenn nicht sämtliche Elemente der Urprägung im Spiel sind.
(Asmus nennt als ein Beispiel das Erlebnis schwarz-weißer Kühe auf grüner Wiese,
illuminiert durch die Strahlen der untergehenden Sonne). Relevant für die künstlerische Arbeit
wurde das „innere Bild“ während des Studiums: Der 20-, 22-jährige
Kunststudent, der zwar weiß, was er nicht will, darüber hinaus jedoch
nur vage Vorstellungen zur Form seines zukünftiges Bildes hat,
nimmt in der Regel zunächst die aktuellen am Markt befindlichen Maler-
und Bildhauereien in Augenschein, unterzieht sie gewissermaßen dem Resonanz-Test,
um so einen Anknüpfungspunkt zu finden. Man kann davon ausgehen, daß
hier jene individuelle Matrix – noch immer unbewußt – in Funktion
tritt: Von Künstlern, deren Werk eine spürbare Anziehungskraft
entfaltet, übernimmt er bestimmte Formelemente, modifiziert und ergänzt
sie in fortwährendem Kontakt zu seinem inneren Bild, bis endlich
Arbeiten mit wachsendem Eigenanteil entstehen und sichtbar wird, was man
allgemein als „persönlichen Stil“ oder „individuellen Ausdruck“
bezeichnet. Vom Tachismus zum Neuen Realismus Asmus findet seinen
Anknüpfungspunkt bei Jean Dubuffet, dessen Arbeiten auf der 2.
Documenta (1959) zu sehen waren: Aufgrund einer starken Beziehung zu
Texturen galt Dubuffets Werk – gesehen durch
die Brille der Abstraktion – als „absolut modern“. Gleichzeitig
aber wiesen dessen Arbeiten über diese Moderne hinaus, denn die
Farbformen seiner Bilder waren nicht selbstreferenziell gemeint, sondern
bezogen sich auf real Existierendes, was auch in Titeln wie The Cow with the Subtil Nose (1954) zum Ausdruck kam. Sich dem eigenen inneren Bild anzunähern,
zu klären also, über welche Mittel die endogene Vorstellung auszudrücken
wäre, ist per Gedankengang nicht zu bewältigen. Ergebnisse, Teil- oder
Zwischenlösungen, können sich allein im praktischen Vollzug
entwickeln, müssen sich materialisieren, auf der Leinwand sichtbar
werden. Der Weg zum eigenen Bild ist mit der Durchquerung eines
unbekannten Sumpfgeländes zu vergleichen: Markierungen existieren
nicht, man muß den Pfad stückweise ertasten, auf Tragfähigkeit hin
testen. Bezogen auf die Arbeit im Atelier heißt das: Temporäre
Zufriedenheit (und die mentale Disposition für einen nächsten Schritt)
ergibt sich offenbar dann, wenn dem Künstler in spe eine Annäherung an
seine „inwendige figur“ gelungen ist. Mit Blick auf die vorgestellten
Arbeiten aus dem Frühwerk
läßt sich die Schrittfolge in groben Zügen rekonstruieren: Die 1961 begonnene Arbeit Mitternachtssonne
präsentiert ihr Sujet, abgesehen von der frisch-farbigen Kolorierung
(bei den Meistern der 50er Jahre dominieren die damaligen Modetönungen
grau und braun), noch in der Manier Dubuffets: eine segmentierte
Landschaft in der unteren Bildhälfte, darüber, anders texturiert, der
bewölkte Himmel und die Sonne. Zu sehen ist ein Simultanbild, das in 7
Phasen jenes kaum wahrnehmbare Absinken und Wiederaufsteigen der
orangenen Scheibe in unmittelbarer Nähe des Horizonts zeigt.
„Bewegung“, auch
„farbige Beleuchtung“, zwei Komponenten also des inneren Bildes,
sind angedeutet. Aber Plastizität? Räumlichkeit? Fehlanzeige! Noch
steht auch Asmus im Bann des Generaldekrets der Nachkriegskunst ("Plus
c'est plat, plus c'est de l'art!“)[9],
demzufolge alles auf dem Bild flächig zu sein hat. Dabei bleibt es
einstweilen, doch die Freistellung der Dinge, ein wichtiges Element der
Sommernachts-Situation 1943, wird weiter vorangetrieben: In Steingarten
mit Figur (1962) ist das Gemeinte ostentativ von der Umgebung separiert,
farblich vor allem, aber auch in Bezug auf die Art des Farbauftrags.
Sukzessive glätten sich Unter- und Hintergrundflächen (Zwei
Schornsteine, 1962/63, Pik-König, 1963). Zudem wird an den
Gegenständen die umlaufende Kontur deutlicher sichtbar, ein weiteres
Bildmittel, das die Dinge noch entschiedener vom Umfeld absetzt und das
Asmus in modifizierter Form auch heute noch einsetzt. Während in Pik-König der „richtige“
Hintergrund – glattes Buntpapier ohne Malspuren – bereits fixiert
ist, deuten die Zwei Schornsteine bzw.
der anthrazit-grüne Rauch über den Schloten, eine interessante
Zwischenlösung des Problems „Plastizität“ an. Zwischenlösung
insofern, als das Voluminöse des Qualms –
Schwerspat, modelliert – zwar deutlich wird, aber noch als
haptisches, nicht als optisches Phänomen in Erscheinung tritt: borkig
aus der Fläche hervortretend. Ähnlich verfährt Asmus in Haus mit Rauchfahne.
Hier sind der Ölfarbe Stoffreste, Kordeln, Kronenkorken beigemischt, so
daß sich ein vegetativ anmutendes Relief ergibt. Kurz zu Froschtest
(Dr. Rock), zu einem Bild, das zwischen 1983 und `86 entsteht, d.h., zu einem
Zeitpunkt, da Asmus seine Bildmittel weiter ausdifferenziert und –
farbige Beleuchtung ausgenommen –
sicher
beherrscht.
Der Vorgriff schärft den Blick für die Art und Weise, in der einige Köpfe
der Vorsokratiker
(1963) Plastizität (und Präsenz) erhalten: Unterlegt sind sie mit weißer,
angelegt in schwarzer Deckfarbe, die aber so verrieben wird (mit dem
Finger), daß an einigen Stellen das Weiß wieder hervortritt, während
sich das Schwarz an der Kontur verdichtet. Hier wird der Übergang von
haptischer zu optischer Plastizität sichtbar: Die Textur existiert nach
wie vor, jetzt aber primär als Beschreibung der Oberfläche, nicht als
Konkretisierung von Plastizität. Die ergibt sich durch die Helligkeit
(in der Mitte der jeweiligen Figur) und die Abschattierung zum Umriß
hin, was am „Linksaußen“ der 2. Reihe besonders gut zu sehen ist. Mit bildlogischer
Konsequenz kippt nun, gegen Ende der Formfindungsphase, auch die Fläche,
bislang auf einer gedachten Ebene mit der Figur, nach hinten.
Erstmals sichtbar in Hockeyspieler
(1964), entsteht eine Raumillusion. Und damit ist ein extrem großer
Schritt in Richtung Realismus getan. Jetzt nämlich gelingt es,
Dreidimensionalität zu imaginieren. Gegenstände und Figuren
„kleben“ nicht mehr an oder auf der Fläche, sondern befinden sich
– wie in Wirklichkeit – im Raum. Den Schlußpunkt unter das Frühwerk setzt Landschaft
mit Torso (1964): Die Plastizität der Vegetation tritt noch – Abschiedsgruß
an Dubuffet – als flächiges Relief, als haptisches
Phänomen also, in Erscheinung, die Figur hingegen vermittelt ihr
Volumen bereits optisch, durch
Licht und Schatten und die mit dem Hautton „verhäkelte“ umlaufende
Kontur. Im Prinzip, so könnte man sagen, hat Asmus seine
Bildmittel jetzt beisammen: Gesichert sind Räumlichkeit (Hockeyspieler)
und die Plastizität der Gegenstände und Figuren, sowie deren
Exponierung durch die umlaufende Kontur (Landschaft
mit Torso) und das Freistellen vor glattem Hintergrund (Pik-König). Von individuellem
Ausdruck und persönlichem Stil jedoch kann man erst ein Jahr später
sprechen, als die ersten Bilder des Neuen Realismus vorliegen. Ade Quast und Spachtel Diese 12 Monate allerdings,
in denen Kniende mit Ball
und
Frau mit Ball entstehen, haben es
in sich: Bis zur Fertigstellung der Landschaft
mit Torso erfolgte die Mitwirkung der „inwendigen figur“ (in ihrer
Funktion als Kompaß) unterschwellig.
Der höchst erstaunliche, ohne weitere Zwischenschritte absolvierte
Sprung zu Kniende
mit Ball deutet darauf hin, daß Asmus jetzt, 25 Jahre alt, sein inneres
Bild erkannt hat: Passiert ist, was er das „blitzartige, mit wachen
Sinnen erlebte Zusammentreffen von endogener Vorstellung und äußerer
Erscheinung“ genannt hat.[10] Das innere Bild wird bewußt
und auch, unter welchen optischen Bedingungen die konkreten
Erscheinungen der Welt bei ihm jenes Übermaß an innerer Bewegung auslösen
und zum Inbild einer wahren Sicht der Dinge werden, die er unbedingt zum
Ausdruck bringen will. Denn so, wie er die gegenständliche Welt in
solchen Momenten erlebt,
ist sie in der Malerei – das immerhin haben die
Kunstgeschichts-Vorlesungen gebracht – noch nicht fixiert! Aufgeladen mit den
Ingredienzien dieses Erfahrungskomplexes setzt er zum Endspurt an, der
den Formfindungsprozess, bezogen auf die Grundelemente, zu
einem vorläufigen Abschluß bringt. Er beginnt mit der Entrümpelung
sowohl der Ölfarbe als auch des Werkzeugkastens: Sand (minimale Mengen
sind bei Kniende mit Ball noch auszumachen),
Stoffreste, Kordeln, Knöpfe und Kronenkorken, Materialien, die bis
dahin der Farbe beigemischt waren, verschwinden ebenso wie Holzspachtel,
Farbrollen, Borstenpinsel, Kämme, Messer und Gabeln, Utensilien also,
mit denen er anfangs die Farbmassen zu grob texturierten Flächen und
borkigen Formen verarbeitet hatte. Übrig bleiben die Ölfarbe, wie sie
aus der Tube kommt und als Werkzeuge Haarpinsel und Stupfpinsel! Die Entscheidung, Ölfarbe
nicht mehr per Quast und Spachtel, sondern mit Fehhaar- und Stupfpinsel
aufzutragen, d.h., eine Maltechnik zu wählen, die im Ausbildungsangebot
der HfBK gänzlich gefehlt hatte und nun von Grund auf, mit dem „Doerner“[11]
unterm Arm, neu erlernt werden mußte, macht klar, daß ihm die
gestalterischen Probleme des „Restprogramms“ bewußt waren: Welchen Status sollten die
neu zu erstellenden Menschen, Dinge, Landschaften erhalten bzw.
besitzen: gegenständliche Phänomene, die sich bislang allein über das
Erlebnis ihrer exorbitanten Wirkung ausgewiesen hatten? Welche Lesarten
– andererseits – mußten unbedingt blockiert werden? Wie etwa war zu
vermeiden, daß die jeweiligen Sujets als Vorwurf für die Entfaltung
malerischer Gesten, oder als Motiv einer Medienreflexion oder als
Transportmittel für Metaphern und Symbole gesehen werden? Angesichts solcher Fragen
auf Ölfarbe, Fehhaar- und Stupfpinsel zu setzen, ist riskant! Zwar kann man mit Ölfarbe
alles machen, aber man muß
auch alles machen, da sie
keine Formulierungshilfen anbietet. Pastellkreide z.B. entmaterialisiert
sich in dem Moment, wo sie als Strich zur Fixierung einer Kontur auf dem
Fond erscheint. Sie wird im Zuge des Farbauftrags zu etwas Bildhaftem,
denn der entstehende Strich bildet automatisch an beiden Seiten ein
leichtes Sfumato, läßt also „von selbst“ eine spezifische Wirkung
entstehen. Ein Ölfarbenstrich dagegen ist indifferent, suggeriert
nichts; bleibt, was er in der Tube war: Farbe. Wenn also – bei der Umrißlinie
eines Balles etwa – der Konturenstrich innen angelöst werden soll, um
eine Wölbung zu suggerieren, muß das gemacht
werden; wenn er außen messerscharf stehen soll, weil das Objekt
sich deutlich vom Hintergrund abheben soll, muß das gemacht
werden. Die Frage ist dabei nie: was ergibt sich, sondern immer: was
will der Künstler erreichen? Ölfarbe zwingt ihn zu geistiger Klarheit.
Er sollte, bevor er zum Pinsel greift, sein bildnerisches Ziel präzise
vor Augen resp. im Körper haben. Unausgegorene bzw. diffuse
Vorstellungen durch das Medium zu kaschieren, diese Möglichkeit läßt
Ölfarbe nicht zu. Wie gesagt, besteht das Risiko des Scheiterns
durchaus. Zugleich aber erhöht sich die Chance, über ein radikales Präzisieren
der bildnerischen Formulierung den gewünschten Ausdruck tatsächlich zu
treffen. Das gelingt in Frau mit Ball und damit legt Asmus
die erste, nach Maßgabe seiner Bildvorstellungen ganz und gar stimmige
(nun auch vom Sand befreite!) prototypische Formulierung eines neuen
Realismus vor: Die wesentlichen Komponenten, also Räumlichkeit,
Plastizität, Kontrast von modelliertem Gegenstand und glattem, flächigem
Hintergrund, bis dahin in annähernd „brauchbarer“ Fixierung auf
verschiedene Arbeiten verteilt, werden hier, weiter präzisiert,
zusammengeführt, wobei die übermäßige, den Magen malträtierende und
Schonkost[12] erzwingende Anstrengung während
des entscheidenden Zeitraums wohl primär der Figur gegolten hat.
Innerhalb eines Jahres war aus dem gerade erst von den Spuren haptischer
Plastizität befreiten Torso eine lebensgroße Figur geworden, der man
in der Realität tatsächlich begegnen konnte, und deren Körperlichkeit
nun durch den Wölbung suggerierenden stufenlosen Verlauf (Stupfpinsel!)
vom Weiß des Glanzlichts zum Schwarz an der Kontur entstanden war. Stilmittel des Neuen
Realismus Steht man vor Frau mit Ball oder anderen während
der 60er und 70er Jahre entstandenen Arbeiten, dann verblüffen auch
heute noch – gerade angesichts der
relativ einfach gehaltenen Motive – das jugendlich Frische,
Nichtkonventionelle und die
Wirkungs-Energie dieser Malerei. Hervorgerufen wird der Eindruck durch
das Zusammenspiel zweier Komponentenkomplexe: Erstens durch ausgewählte
Bildmittel aus dem Fundus der
Malerei, die sich im Zuge der Formfindung als „brauchbar“
erwiesen haben; zweitens durch die Einbindung von Gestaltungselementen
der Fotografie, die in solcher Systematik und Radikalität erstmals
bei Asmus genutzt werden. Im Gegensatz zu
Ausdrucksformen wie Action-Painting, Tachismus, Ex- oder
Neoexpressionismus, bei denen der individuelle Pinselstrich eine maßgebliche
Rolle spielt, tritt die persönliche Handschrift bei Asmus gänzlich zurück.
Ihm geht es nicht um die Exponierung der Faktur, die selbstredend auf
den Herstellungsprozeß, mithin auf den Künstler verweist, zudem
Aufmerksamkeit bindet und vom Gegenstand ablenkt, sondern durchgängig
um eben diesen Gegenstand, dem Kernstück seiner künstlerischen
Bestrebungen: Der spurenlose Farbauftrag vermittelt diese Intention. In die gleiche Richtung
weist die Anordnung der Bildelemente. Niemand würde angesichts dieser
Arbeiten von gewagten oder raffinierten Arrangements sprechen. Das ist
beabsichtigt. Die Aufmerksamkeit soll nicht durch diesbezügliche Kunstkönnerschaft
absorbiert werden. Hauptsache und allein wichtig ist das jeweilige
Objekt. Es wird „schlicht“ aber wirksam in die Mitte des Bildes
gesetzt, und zwar im Rahmen einer unspektakulären, einfachen
Komposition. Was über die
Bildkomposition gesagt wurde, gilt ebenso für die Fixierung des Umfelds
der Dinge und Figuren. Zur Charakterisierung der Außenareale reichen
wenige gezielte Hinweise und ein wolkenloser Himmel.
Einfach ist auch die Innenraum-Architektur. In der Regel werden, und
zwar in stark stilisierter Form, nur die Standfläche (genauer definiert
durch Farbverläufe oder perspektivisch angelegte Linien) und der
Hintergrund (Kacheln, Tapeten) gegeben, also eine auf Grundelemente reduzierte Darstellung der räumlichen Situation.
Meise
oder Mädchen mit rotem Stuhl
zeigen: diese Angaben reichen, um Raum zu imaginieren. Außerdem macht
die nähere Bezeichnung der Örtlichkeit (Zimmer, Käfig, steiniger
Strand etc.) bestimmte Haltungen, Gesten, Bewegungen verständlicher.
Und natürlich – ein entscheidender
Punkt (!) – haben der wolkenlose Himmel ebenso wie die flächigen,
glatten Wände die Funktion, die plastischen
Figur freizustellen, zu
exponieren. Dabei ist nicht die zufällige,
von Lichtverhältnissen oder atmosphärischen Umständen abhängige
Erscheinung der Dinge gemeint. Vielmehr sollen Figuren und Gegenstände
– das Manifest avisiert eine komplexe Neuerstellung – in ihrer
essenziellen Beschaffenheit gezeigt werden. Folgerichtig tauchen Schlag-
oder Körperschatten, desgleichen Überblendungen, die Teile des Motivs
optisch verschwinden lassen, nicht auf. In den Bildern herrscht diffuses
Licht, so daß man die mit der Kontur
verschmolzene umlaufende Dunkelheit als natürlich empfindet. Im
Zusammenwirken beider Stilmittel wird das betreffende Objekt mit einer
wesentlichen Grundgegebenheit ausstattet: mit ihrer Plastizität. Nicht wie sie erscheinen,
sondern wie die Dinge sind: Dieser Vorstellung folgt auch das Kolorit der ins Bild
gesetzten Objekte. Die Oberfläche etwa einer an sich weißen
Kaffeetasse erhält, wenn sie auf einer roten Kunststofftischdecke
platziert ist, eine leichte Rotfärbung. Sie präsentiert sich – bei
Impressionisten oder Foto-Realisten wäre das der Fall – in der Erscheinungsfarbe
„Rosa“. Asmus hingegen zeigt die Gegenstände, wie sie faktisch
existieren, d.h., in ihrer
Lokalfarbe. Zweimal
im Verlauf seines künstlerischen Schaffens, in Blumen
für Petrucciani (2000/01)
und Schmetterling
im Aufwind (2004) modifiziert Asmus
diesen Grundsatz und zeigt das Motiv – der Urprägung des inneren
Bildes geschuldet – in farbiger
Beleuchtung. Indirekt bleibt die Lokalfarbe auch dabei im Spiel, denn
der Verfremdungseffekt, der die betreffenden Dinge der utilitaristischen
Sicht entzieht und eine ästhetische Wahrnehmung evoziert, wirkt wegen
der ins Auge springenden Abweichung vom „natürlichen“ Kolorit, was
am Beispiel der bekanntlich immer weißen Tastatur des Klaviers in
Blumen
für Petrucciani (2000/01) besonders deutlich
wird.[13]
Das Haar in der Suppe Bewußt habe ich mich bei der Beschreibung der Stilmittel an die Arbeiten der 60er und 70er Jahre gehalten, an Bilder der Fundierungsphase also, deren Wirkkräfte sich aufgrund der elementar einfachen, giottoesk anmutenden Gestaltung relativ leicht isolieren (und darstellen) lassen. Auffällig ist die formale Sringenz, mit der Asmus „die komplexe Neuerstellung von Dingen“ angeht und die zeigt sich u. a. auch daran, wie er auf Erscheinungen der Wirklichkeit reagiert, deren konzeptgemäße Fixierung zunächst nicht gelingt. Für
Haar z.B., bildnerisch gesehen ein grafisches Phänomen, findet er, da
die Plastizität der Dinge unabdingbare Priorität besitzt, zunächst
keine befriedigende Form. Doch er greift nicht auf tradierte Lösungen
zurück, was vermutlich auch bei nicht naiven Betrachtern durchgehen würde,
sondern verzichtet vorerst, nach einem Versuch (Frau
mit Ball, 1965/66), auf Frisuren, Wuschel- und Lockenköpfe;
verpaßt seinen Damen Bademützen (Kniende mit Ball, 1965, Unter
der Höhensonne, 1968) und dem Torwart
(1970/71) eine kappenartige Kopfbedeckung, so daß schließlich
sämtliche Details der Figuren die formale Absicht verkörpern. Das
Thema „Haar“ aber bleibt auf der Tagesordnung, wobei zu beobachten
ist, daß sich mit zunehmender Differenzierung der menschlichen Figur
(der Dinge generell) auch Fortschritte in dieser
Sache ergeben. Deutlich wird diese Verknüpfung, wenn man Frau mit Ball mit dem 12 Jahre später
entstandenen Bild Frau
mit Eisbecher vergleicht. Zu Beginn eine stark vereinfachte,
auf das Konzept hin idealisierte, programmatisch-plastische Kunstfigur
mit einer eher pauschalisierenden Darstellung der Frisur. Entschieden
vielfältiger dann die Frau
mit Eisbecher: Im Zuge eines weiteren Schritts der
intendierten „Neuerstellung von Dingen“ kommt hier – das mit
floralen Elementen bedruckte Sommerkleid der Protagonistin! – als
neues Element „bemalte Plastizität“ ins Spiel. Neu sind zudem die
stark individualisierende Gestik und Mimik der Figur sowie, immer als
„Plastik“ gesehen, der Halsschmuck, die als Spritzform dargestellte
Schlagsahne, die Waffel mit filigranem Rautenrelief etc. und – auf
gleichem Differenzierungs-Niveau – eine konzeptgemäße Frisur!
Asmus löst Formfrage, indem er die einzelnen Komplexe der Haartracht
(Locken, Strähnen, nach innen gedrehte Wellen) als plastische Gebilde
begreift und mit linearer Textur versieht. Den
vorläufigen Schlußpunkt dieser Haar-Bewältigungs-Geschichte bildet Geburtstag,
ein Ölgemälde, das 1987, also neun Jahre nach Frau mit Eisbecher entsteht.
Witzigerweise hilft die Frisur eines Landschaftsmalers[14],
eines Spezialisten für Gestrüpp und Ruderalflora, bei der definitiven
Formulierung des Phänomens „Haar“. Aber natürlich ist auch dieser
Schritt eingebunden in den fortlaufenden, alle Erscheinungen umfassenden
Differenzierungsprozeß: Im Fortgang dieser Entwicklung ersetzt Asmus
die diffuse „Ideal“-Beleuchtung der frühen Bilder hier erstmals
durch „reales“, in diesem Fall von links kommendes Seitenlicht, das
die plastischen Gegebenheiten auf „natürliche Weise“ modelliert und
zugleich für eine Anspitzung des Ausdrucks in Richtung Dramatik sorgt.
Die per Licht imaginierte Außen-Situation wird präzisiert durch die
Margeritenblüte, die der Wind auf die Tischplatte geweht hat und die
flackernden, nahezu waagerecht am Docht hängenden Flammen, wobei es
sich – auch dies eine von der landläufigen Vorstellung „Kerze“
abweichende Konkretisierung! – um gedrehte, nach oben hin konisch
zulaufende farbige Kerzen handelt. Sie stehen – und bilden eine Art Bühne
für die drei dem Gesang obliegenden Kunststoff-Schlümpfe – auf einem
selbstgemachten Kuchen. Selbstgemacht, denn die Marzipan-Beschichtung
weist verräterische Dellen und Beulen auf, die aber dem Objekt unter
plastischem Gesichtspunkt Attraktivität
verleihen und dem Geburtstagsgeschenk im Zusammenspiel mit der
overdressed anmutenden Tortenspitze eine ambivalente Note geben. Auf den
solcherart Geehrten scheint das Präsent genau
so zu wirken, denn im ersten Moment kommt es zu einer zumindest
leichten emotionalen Überflutung, ablesbar an den in verschiedene
Richtungen fahrenden Gesichtszügen: Ein plastisches Phänomen der
Extraklasse mit eingebautem V-Effekt! Daß
die Frisur in etwa den Grad an Binnenvariation erreicht wie ihn Gesicht,
Arme und Hände des Porträtierten zeigen, dafür sorgen auf der
inhaltlichen Ebene u.a. Licht und Wind. Aber auch bei der formalen Bändigung
des Haares, die ja – der inneren Stimmigkeit wegen – den gleichen
Stilisierungsgrad und Stilisierungsmodus (Primat der Plastizität)
aufweisen muß wie Gesicht und Oberkörper etc., dürften die grelle
Beleuchtung und der leichte Luftzug beteiligt gewesen sein: Unter
Einwirkung von starker Helligkeit verschwimmt der Umriß eines
Gegenstandes, und er verschwimmt auch, wenn Wind in Haar oder Fell fährt.
Nichts Neues, vor allem nicht für Maler! Vor dem Hintergrund des noch
immer nicht gänzlich gelösten Problems jedoch richtet sich die
Aufmerksamkeit erneut auf dieses Phänomen: Wie sieht dieses Vibrieren
der „haarigen“ Silhouette tatsächlich aus? Wie ist es umzusetzen,
ohne daß der Eindruck kompakter Dinglichkeit verblaßt, der ja
wesentlich durch die geschlossene Form mitbestimmt wird? [15]
Asmus klärt das Problem, indem er – den „Vorschlag der Natur“
aufgreifend – die Konturen der Binnenformen (Haarsträhnen) wie auch
den Umriß anlöst. An die Stelle der extrem scharfen Trennung zwischen
Figur und Fond, wie sie beim Haar der Frau
mit Eisbecher noch zu sehen ist, tritt hier eine diffuse
Zone: ein Sfumato, ein Mini-Verlauf vom Schwarz des Umrisses ins helle
Ocker des Hintergrunds. Kurzum:
Das grafische Phänomen „Haar“, das Asmus
seinem plastisches Konzept zunächst nicht einverleiben konnte,
da er die Wucht der geschlossenen Form keinesfalls aufs Spiel setzen
wollte, ist damit integriert. Und die Intensität des Anblicks bleibt
erhalten! Hebammendienste der Kamera
bei der Geburt des Neuen Realismus Tatsächlich erweist
sich die Fotografie, die ab Mitte der 50er Jahre über die Print-Medien
zunehmend stärker in Erscheinung tritt, als wesentlicher Faktor, da sie
nicht nur die vielzitierte Veränderung der Sehgewohnheiten einleitet,
sondern flächendeckend auch neue Ansichten altbekannter Erscheinungen
präsentiert. Anders als unser visuelles Sensorium, das selektiert, lückenhafte
Wahrnehmungen ergänzt, scheinbare Fehlmeldungen korrigiert etc., bietet
die Kamera „objektive“ Aufnahmen der jeweiligen Sache: Was Licht
reflektiert, ist auf dem Foto. Und das zeitigt Bilder der Wirklichkeit,
die es vorher, ohne die Fotografie, nicht gegeben hat (darauf komme ich
noch einmal zurück). So wird dieses Medium, indem es die für solche
Prozesse erforderlichen Verfremdungseffekte liefert, zum Katalysator
einer Wiederentdeckung der Realität. Daß
diese „objektive“, diese andere Fixierung der Dinge abweicht von
Bildern, wie sie bis dahin in der Großhirnrinde landeten, zeigt sich
noch deutlicher, wenn zu der prinzipiellen Andersartigkeit die
besonderen Darstellungsmittel der Fotografie hinzukommen, also Aufnahmen
per Tele-
oder Weitwinkelobjektiv; Vogel-
und Frosch-Perspektive, Farbstichigkeit
durch künstliche Beleuchtung, Kurzzeitbelichtung,
Anschnitt, Ausschnitt usw. Wenn z.B. Katzen beim Spielen
fotografiert werden und bei einem Sprung genau dieser Moment, die
Hundertstelsekunde vor der Landung festgehalten ist und
das Tier dadurch in ungewohnter Stellung erscheint, ergibt sich eine
eigentümliche Verfremdung. Wenn bei Weitwinkel-Landschaftsaufnahmen der
Mittelgrund fehlt, so daß die im Kopf sitzenden Größenverhältnisse
durcheinander geraten, löst das Irritationen aus. Wenn man nachts, bei
greller gelber Straßenbeleuchtung drei Frauen in bunten Kleidern
fotografiert, während sie über den – nicht schwarz-weißen, sondern
jetzt schwarz-gelben – Zebra-Streifen laufen und die Figuren im Foto
in spezieller, ja sogar falsch wirkender Farbigkeit auftauchen, wandelt
sich eine Allerwelts-Situation in einen fast schon fantastischen Moment!
Immer, und das verbindet die drei Beispiele, tritt folgender Effekt ein:
Ausgelöst durch die andere, objektive Sicht der Kamera,
erscheinen alltägliche Dinge fremd und neu. Und das geschieht nicht nur
einmal pro Monat, sondern permanent, zumal unser Sensorium,
„angeleitet“ durch das Foto, entsprechende Momente/Situationen bald
auch live wahrnimmt. Man kann sich vorstellen, daß Asmus, entsprechend
disponiert, auf visuelle Reize solcher Art heftig anspricht und daß
deren Auslöser – die Stilmittel der Fotografie – von Beginn an
seinem Gestaltungsrepertoire eingebunden sind: intuitiv genutzt während
der Formfindungsphase, später gezielt eingesetzt, wobei eine
Funktion, die nämlich, durch integrierte
Stilelemente fotografischer Herkunft via Verfremdung Aufmerksamkeit zu
evozieren, auf den ersten Blick erkennbar ist: Mädchen
mit Sektglas, Sightseeing-Flug,
Sensationsdarstellerin
(zu Pferd). Im Grunde aber ist der V-Effekt, der „den Stein wieder
steinern“ macht (Viktor Sklovskij), der, anders gesagt, Dinge (s.o.)
überhaupt wieder in den Fokus ästhetischer
Wahrnehmung rückt, jeder Grafik, Zeichnung, jedem Gemälde
implantiert: über die beschriebene Funktion hinausgehend als omnipräsenter
Ausdruck einer neuen Sicht der Dinge. Denn tatsächlich wird – sieht
man davon ab, daß die Abstraktion irgendwann ihr Verfallsdatum erreicht
hatte [16]
– der intensive, neue Blick auf die Erscheinungen der Wirklichkeit und
damit auch die Renaissance der realistischen Malerei ganz entscheidend
durch die Kamera ausgelöst: In ihrer Funktion als Verfremdungsmaschine,
wie gesagt, aber vielleicht mehr noch aufgrund eines zweiten
Wirkungsfaktors: Via Nahaufnahmen
in Kurzzeitbelichtung werden Bereiche erschlossen, die bislang außerhalb
unserer Beobachtungsmöglichkeiten lagen und das gilt ebenso für Phänomene,
deren Erfassung erst über die Verkoppelung
von Kamera, Vergrößerungsgerät bzw.
Teleskop gelingt. Details mit Sensations-Appeal, die etwa ein „in der Luft
stehender“ Wasserspritzer zum besten gibt oder die Möwe im Sturzflug
in der letzten Hundertstelsekunde, bevor sie die Brotkruste erwischt!
Der Blick aus dem Orbit und die faszinierende Entdeckung identischer
Formprinzipien bei Wasseroberflächen z.B., Wolkengebilden, Wüstenlandschaften
und dem Arm einer Greisin im Krankenzimmer! Die strukturellen Ähnlichkeiten
zwischen Phänomenen im Makrokosmos und
Mikrokosmos des Menschen, die einen berühren können wie tief
eindringende Musik usw. usf. Daß unter dem Eindruck solcher (inzwischen
ja durchaus kollektiver) Erfahrungen das Bedürfnis nach neuer
Orientierung, neuer Wertstellung der konkreten Erscheinungen, der
Artefakte wie der Naturdinge, anschwillt, mithin auch das Verlangen nach
neuen Bildern, wird vor diesem Hintergrund verständlich: Der Neue
Realismus konnte gar nicht anders, er mußte entstehen! Das
Spezifische des Neuen Realismus 1.
Schon bei der Implementierung des inneren Bildes fällt auf, daß
sich Empfindungen wie Angst, Hilflosigkeit, Schutzbedürfnis etc. trotz
der desaströsen Umstände jener Juli-Nacht 1943 offensichtlich nicht
mit eingeprägt haben. Eine emotionale Signatur haben allein die
Komponenten des puren visuellen
Tatbestands hinterlassen. 2.
In sämtlichen Arbeiten der Formfindungs-Phase, von den noch an
Jean Dubuffet orientierten Gestaltungsversuchen bis hin zu den ersten
eigenständigen Bildern, geht es darum, Darstellungsmöglichkeiten für
die mittels ästhetischer Wahrnehmung erlebte schiere
Präsenz der Dinge zu erarbeiten. Was Gegenstände und Figuren zunächst
noch an Deformationen,
Art-Brut-Elementen, auch an modischem Aufputz wie Flächigkeit oder „peinture à la École de Paris“ mitführen, Ausdruckselemente also
einer anderen Kunst- bzw. Bildvorstellung, verschwinden aus Asmus´
„Baukasten“. Sie werden ersetzt durch neue, noch nicht abgenutzte,
relativ konnotationsfreie Bildmittel.[17] 3.
Plastizität der
Objekte, gesteigert durch flächigen Hintergrund; Lokalfarbe und ihre
spurenlose Vermalung; Mittelkomposition bei einfachen räumlichen
Gegebenheiten; generell: konstruktive (nicht optische) Erfassung der
Gegenstände und anatomische Richtigkeit der Figuren etc: der so
erzielte Ausdruck ist, wenngleich das immer wieder passierte, weder mit
Neuer Sachlichkeit, Popart, kritischem Realismus, Fotorealismus oder gar
altmeisterlicher Malerei in Verbindung zu bringen, sondern zielt ab auf
eine zeitgenössische bildhafte Vermittlung einer die Wirkung des Dinglich-Konkreten betreffende essentielle Erfahrung: 4.
Wenn Asmus in Möwenfütterung
das Tier, freigestellt vor grauem Himmel, in exaltierter, Gier und
Grazie verkörpernder Flugbewegung, nahezu senkrecht nach unten auf die
mit ausgestrecktem Arm hoch in die Luft gehaltene Brotkruste zustürzen
läßt, den Vorgang also in bis dahin nie gesehener Zuspitzung zeigt, so
daß der Vogel – freigestellt auch im übertragenen Sinn –
abstreift, was ihm zur Veranschaulichung verbal-begrifflicher Entitäten
angehängt wurde und uns, die Betrachter, durch nichts anderes als seine
phänomenale Faktizität beeindruckt, verstehen wir, was mit
„essentieller Erfahrung“ gemeint ist: Das Bild „berichtet“ über
ein ästhetisches Erlebnis des Künstlers, von dem
Erlebnis nämlich der – so hat Franz Kafka einmal diesen
Zustand beschrieben – physischen Anwesenheit
eines fremden Lebewesens im eigenen Körper. 5.
Anderes Beispiel - Kind und Katze: Ein kleines Mädchen hat sich ein Erwachsenenhemd rundherum in die
Hose gesteckt und eine selbstbemalte, mit Öffnungen für Mund und Nase
versehene Packpapiertüte über den Kopf gezogen. Steht nun in Strümpfen,
einen Fuß wenige Zentimeter vorgeschoben und verharrt irritiert,
unsicher – die
Augenlöcher scheinen nicht zu passen – auf dem glatten kleinteiligen, offenbar rutschigen Boden. Die Arme
sind angewinkelt und tastend nach vorn gerichtet. Die Figur
vermittelt den Eindruck einer leichten Desorientierung. Sie verhält
sich wachsam, vorsichtig, und es entsteht – in Verbindung mit dem
diffusen Hintergrund – eine von der Normalität abweichende Atmosphäre,
eine stimmungsmäßige Veränderung, die von der Katze links neben dem
Kind ausdrücklich bestätigt wird! Auch
hier benötigen die Bildmittel nicht den Kopf als Relais-Station,
sondern wirken unmittelbar über das Sensorium auf den Betrachter ein:
Die leichte, nach rechts weisende Neigung der Figur, verstärkt durch
die angewinkelten Arme und die etwas zur Seite gekippte ca. 70 cm hohe
Papiertüte, deren Faltlinien die angedeutete Schräglage des Körpers
aufnehmen und geringfügig übertreiben sowie der bewegte, viel Volumen entfaltende
Hemdenstoff, der durch seine Masse und spürbare Eigendynamik das
Gleichgewicht zu stören scheint, sorgen – zumal
außerdem die Füße keine den Stand „sichernden“ Schatten
werfen – für einen instabilen Zustand. Für Sekundenbruchteile wird
diese Befindlichkeit im Betrachter generiert, so daß er die körperliche
Verfassung des Kindes quasi in sich spürt, d.h. kurzfristig zum (in
den) Erlebensmodus des Kindes zurückkehrt. 6.
Weiter: Das Krankenzimmer
zeigt eine typische Kamera-Sicht. Vom Kopfende aus so aufgenommen, daß
von der im Bett liegenden Patientin, einer offenbar sehr alten Frau, nur
deren Hände und Arme und, angeschnitten, die weiten Ärmel des
maschinengebügelten Krankenhaus-Nachthemds im Bild sind, ist
dargestellt, wie die Liegende versucht, sich mit Hilfe des Triangels
aufzurichten. In den Armen – diskretes pars pro toto – kommt die
Befindlichkeit der Greisin zum Ausdruck, vermittelt durch die
„Ansprache“ der Form und entsprechende Resonanzen auslösend, so daß
wir, die Betrachter diese uns fremde Innerlichkeit leibhaftig empfinden.
Was diese per Kunstwerk kommunizierte ästhetische Erfahrung des
weiteren anbietet – konkretisiert am Beispiel dieses Motivs – weist
über den dargestellten Einzelfall hinaus: In
dieser offenbar letzten Phase ihres Lebens kommt die Individualität der
Person, und zwar über die dezidierte Präsenz altersspezifischer
Gegebenheiten, der Narben also, der Pigmentstörungen, Austrocknungen,
der hervortretenden Adern, Sehnen, Knoten etc. noch einmal und auf
bewegende Weise zum Vorschein, wobei der Eindruck von Singularität
gesteigert wird durch die zwei abstrakten, akkurat an der Wand hängenden
Allerweltsgrafiken. Die gleichen Details aber, eben noch untrennbar
verschmolzen mit der konkreten individuellen Erscheinung "Arm", bringen
dann, Sekundenbruchteile später, die Assoziationen auf einen gänzlich
anderen Kurs, in Richtung Landschaft nämlich, zu Dünen, Treibholz,
trockenem Schlick; zum Rücken einer Kröte, Echse, zum Kopf einer
Schildkröte. Im Moment also der allerdeutlichsten Ausprägung werden
die Formen, in denen sich der Zustand des Einzeldings manifestiert,
adoptiert; adoptiert von einer allgemeinen Struktur. In der Morphografie
der Hände und Arme wird Tod nicht als unfaßbares Ende, sondern –
antizipiert in der bildnerischen Formulierung – als Vorstellung einer
Transformation begreifbar: Die Metapher (und damit auch der Trost, den
dieses Bild bereithält) steckt weniger im Sujet, sondern primär in der
Form. [18] 7.
Ad hoc läßt einen Schmetterling
im Aufwind an
die von Asmus beschriebene Situation denken, in der sich sein inneres
Bild konstituiert: „Vollplastische Gegenstände, farbig stark
beleuchtet […], vom Himmel freigestellt, in langsamer Bewegung
freischwebend im dreidimensionalen Raum.“ Zwar fällt der Blick
hier nicht von unten nach oben, sondern umgekehrt, aus der
Vogelperspektive runter auf die Wolkenkratzer, aber alle der genannten
Bild-Elemente sind geradezu idealtypisch vorhanden, wobei der
Schmetterling – wenn man so will – das Schweben repräsentiert.[19]
Identisch oder fast identisch mit der
Urprägung – und damit zum Motiv wird dieser
Stadtlandschafts-Ausschnitt durch das nahezu waagerecht einfallende
Abendlicht, durch die schräge Draufsicht und einen optimalen
Blickpunkt: Von oben und über Eck gesehen, nimmt man von den meisten
Gebäuden drei Seiten wahr, erfaßt sie mithin als plastische Gebilde,
erfaßt auch den Raum, der sie umgibt. Das Bild entfaltet einen
bemerkenswerten Sog, wobei man versuchen kann, einzelne Faktoren dieser
im Verbund wirkenden Anziehungskraft zu benennen: Das Auge rutscht nicht ab an glatten,
spiegelnden Flächen, sondern es bieten sich diverse, höchst attraktive
Anhalts- und Aufenthaltspunkte, die zu Entdeckungen einladen. Keines der Hochhäuser gleicht dem
anderen, weist vielmehr eine unverwechselbare Physiognomie auf, was die
Orientierung erleichtert. Allesamt funktionieren sie auch
optisch. Fernsehtürme mit Panoramarestaurant etwa, die Unbehagen auslösen,
weil der Schwerpunkt zu hoch sitzt oder ähnlich verkorkste,
Fluchtinstinkte auslösende Objekte sind nicht im Bild.
Affinitätssteigernd wirken zudem die
zahlreichen Details, die Auskunft über die Nutzung bestimmter Gebäudeteile
geben, zumindest Vorstellungen zu deren Funktion evozieren. Das
Innenleben wird nicht hinter abweisenden Fassaden versteckt, sondern
kommt via Gestalt zum Ausdruck. Obwohl es sich um Wolkenkratzer
handelt, wirken sie – auch wegen der im
Licht auflodernden Gebäude, wegen des schroffen Wechsels von Schatten
und Helligkeit, dank der aufblinkenden Fenster des gelben Wohnturmes und
des illuminierten Waldareals – wie phantastische Gewächse in einem
Garten: eine „bewohnbare Vision“, mitgeprägt durch eine Atmosphäre,
die man als magisch-sakral bezeichnen kann und Assoziationen u.a. in
Richtung „Diû himilisge gotes
burg“/„Himmlisches Jerusalem“ auslöst. Aber was über Möwenfütterung, Kind
und Katze und die Frau im
Krankenzimmer gesagt wurde, gilt natürlich
auch hier. Der Königsweg der Bild-Wahrnehmung? Wie Kleinkinder das
einer bestimmten mimischen Geste zugrunde liegende Gefühl (der Mutter)
intuitiv spüren, so könnte der Betrachter hier über die Wahrnehmung
der Formen jener architektonischen Situation deren innere Befindlichkeit
spiegeln bzw. unterschwellig
aufnehmen: als Ingredienzien einer den Hochhaus-Komplex
charakterisierenden Gesamtatmosphäre und verbunden u.U. mit dem Gefühl,
körperlich spürbar in diese Atmosphäre eingebettet zu sein. Der
Kulturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht nennt diesen durch ein ästhetisches
Erleben ausgelösten Zustand mit Bezug auf eine umgangssprachliche
englische Redewendung „to be in synch with the things of the world“. Die
Visionen des Neuen Realismus Dinge werden in der
gegenständlichen Malerei oft nur als Vehikel genutzt: zur Vermittlung
sozio-kultureller Befunde (Kritischer Realismus), zu Reflektionen über
das Lichtbild (Fotorealismus), für die Inszenierung surrealer
Vorstellungen, zur Beförderung von Metaphern und Symbolen oder –„Painting
the Painting“ – um den Akt des Malens darzustellen. Der neue
Realismus à la Asmus hingegen rückt – gegen die überbordende
Dominanz begrifflich
orientierter „Knowledge Production“ – den Gegenstand selbst ins
Zentrum: als phänomenales Faktum in seiner dinglich-konkreten Wirkung.
Angesichts der Tatsache, daß bestimmte, auf unvermittelter Begegnung
mit sichtbarer Wirklichkeit fußende Komponenten unseres Weltbildes
durch fortschreitende Rationalisierung und Digitalisierung vom
Verschwinden bedroht sind[20],
gewinnen Asmus´ Arbeiten zunehmend an Bedeutung: als Versuch nämlich,
solche spezifischen Erfahrungsbestände dem Bewußtsein zu
sichern! Der Gegenstand erscheint nicht als
Abbild, sondern im Bild: auf Ausdruck hin stilisiert. Asmus´ Malerei
vermittelt, was die ästhetische Erfahrung, d.h. den oben erwähnten
Zustand ausgelöst hat, über die Form
der Darstellung. Als bildgebende Prozedur, die jene wortlosen
Botschaften von Naturdingen und Artefakten in Formensprache umsetzt und
somit ein Kunsterlebnis evoziert, besitzt dieses Verfahren
– trotz seiner bis ins Mythologische zurückreichenden Wurzeln
– die Faszination und Frische absoluter Gegenwärtigkeit. Das
allerdings nur, wenn es wie hier dem individuellen Gestaltungstrieb,
dessen Entfaltung eng mit
der je aktuellen Selbst- und Weltwahrnehmung verknüpft ist, angepaßt
wurde: Die Erfahrungen der Abstraktion in petto, hat Asmus die
Bildmittel einem grundlegenden Tauglichkeitstest unterzogen und deren
Ausdrucksmöglichkeiten erweitert, zum Gebrauch für das 20.Jahrhundert
ff. nachjustiert ! Und diese Reaktivierung markiert eine
Zäsur: Hier beginnt der neue Realismus, der Realismus nach
der klassischen Moderne. Er beginnt mit einer neuronalen
Verschaltung, d. h., mit der Entstehung
eines inneren Bildes. Das künstlerische Originalität sichernde
Ereignis schlechthin! Seit je her gehören die „innere Gestalt“ (Plotin),
die „Vision“ (Michelangelo), das „Bild des geistigen Auges“ (C.
D. Friedrich) zu den konstituierenden Faktoren malerischer Produktion
– bis in die jüngste Vergangenheit. Inzwischen jedoch, mit wachsendem
Einfluß der Kuratoren in Sachen Kunstproduktion, sind Dürers „inwendige figur“ und deren Brüder und
Schwestern im Geiste aus dem Diskurs verschwunden, wobei es, nebenbei
gesagt, zu einer kuriosen Koinzidenz kommt: Während die umfassende
Bedeutung der „innen vorhandenen Gegebenheiten“ (Keppler) seitens
der Naturwissenschaften im Zusammenhang mit kreativen Prozessen
zunehmend deutlicher erkannt wird,[21]
haben sich die exponierten Künstler der Gegenwart von dieser Möglichkeit,
über veränderte, durch das Vor-Bild endogener Visionen angeregte
Formen den Blick auf die Welt zu erneuern, weitgehend verabschiedet. Bei
Asmus fungiert die „inwendige figur“ weiterhin als Platzhalter für
die nicht quantifizierbare Dimension der Wirklichkeit, für künstlerische
Wahrheit, die hier in kraftvoller Eigenwilligkeit formuliert ist. Im inneren Bild sind unbewußt
registrierte Wahrnehmungen und – eingebunden in die entsprechende
Matrix – die dabei auftretenden Emotionen gespeichert. Im Zuge des
Malvorgangs fließen diese unterschwellig angelegten Befunde in die
Formulierungen des „Hand-Auge-Apparates“ ein, werden zum
Bestandteil des Gemäldes, d. h., zu Mitinitiatoren des
Kunsterlebnisses, das uns kurzfristig in jenen Zustand („to bee in
synch …“) der Identität von Ich und Welt versetzen kann: Diesen
Erfahrungsmodus heutzutage im Spiel zu halten, ist bedeutsam an sich! Daß solche nicht-rationalen Aspekte
unseres Welterlebens allein via Kunst das Bewußtsein erreichen, läßt
sich über den Kontakt mit Asmus´ Arbeiten in Erfahrung bringen.
Initiiert durch die Faszination des Realen, getragen von der formalen
Energie revitalisierter Bildmittel, die unsere Gefühlsareale bis hin
zur verstörenden mentalen Attacke aufmischen, offerieren seine
hochverdichteten Bilder ästhetische
Begegnungen mit Wirklichkeiten, die erst das 20. Jahrhundert
hervorgebracht bzw. zugänglich gemacht hat. [1] „Lieber Maler, male mir …“. Radikaler Realismus nach Picabia. Katalog. Wolfsburg 2003 [2] Elisabeth Binder, Der Wintergast, Stuttgart 2010 [3] Strukturell vergleichbar mit der Historienmalerei des 19, Jahrhunderts. [4] Vergl. Gespräch mit Wolfgang Becker anläßlich der Aachener Ausstellung (Neue Galerie, Sammlung Ludwig), 1972 [5] Vgl. Armin Schreiber, Wenn es plinkt- Über das Kunsterlebnis im neurobiologischen Zeitalter, in: Merkur 721, 2009, S. 487- 496 [6] Neurologen sprechen in dem Zusammenhang von Erwartungsbildern [7] Visionen des Wirklichen, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Städtische Galerie im Park, Viersen, 2001 [8] Zur Erinnerung: Ich achte auf die Pfütze, damit ich keine nassen Füße bekomme (pragmatische Wahrnehmung); ich sehe den schillernden Ölfleck, die Spiegelung der Wolken auf der Wasseroberfläche etc. (ästhetische Wahrnehmung). [9] Vergl. Dieter Asmus, „Betreten Verboten“, Texte auf dieser Homepage [10] Der Maler Heiner Altmeppen spricht in dem Zusammenhang vom „aktuellen Erlebnis der individuellen Grundmuster oder Urbilder“. [11] Max Doerner, „Malmaterial und seine Verwendung im Bilde“, auf dem Markt seid 1921 [12] Noch mein erster Besuch bei Dieter Asmus (1968) fand im Zeichen von mildem Tee und ebenso milden Reiswaffeln statt. [13] Bemerkenswert: Asmus überzieht das jeweilige Motiv nicht mit einer farbigen Lasur, sondern malt die Abtönungen alla prima, d.h., er verändert die Lokalfarbe bereits auf der Palette. [14] Das Motiv zeigt den Maler Bernd Schwering, der mit Dieter Asmus einige Tage auf der Insel Elba verbrachte. [15] Aus diesem Grund wird z.B. die Brille in Mädchen vor Badekabine (1973) durch einen Reflex auf dem Glas undurchsichtig. Durchsichtigkeit hätte – so die damalige Vorstellung – den Eindruck „geschlossene Form“ gestört. [16] Mit großer Wahrscheinlichkeit spielten auch die Erfindung und massenhafte Produktion neuer Geräte und Maschinen in neuen Materialien und anderen Farben ein wichtige Rolle, einfach, indem sie auftauchten in der Realität, aber nicht vorhanden waren in der Bildenden Kunst. [17] Hier auf Picasso verweisen [18] Siehe S. 15 im Kapitel „Hebammendienste …“ [19] Dessen eigentliche Funktion besteht jedoch vor allem darin, den Raum erfahrbar zu machen, sowie durch Form, Farbe und seine Lebendigkeit die Atmosphäre der dargestellten Situation zu präzisieren. [20] Darauf hat bereits in den 70er Jahren der Philosoph (und Begründer der Neuen Phänomenologie) Hermann Schmitz hingewiesen. [21] Vielfach bezieht man sich dabei auf Wolfgang Pauli (Nobelpreis für Physik 1945), der „ ein malendes Schauen dieser inneren Bilder“ als die Vorstufe des Denkens bezeichnete. Von Albert Einstein ist bekannt, daß er einige seiner großen Erkenntnisse über bildhafte Vorstellungen gewonnen hat. Interessant in dem Zusammenhang: Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, Göttingen 2006
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