Brigitte Kronauer

 
     
 

Die Sprache von Zungen- und Sockenspitze

 
     
 

    Jeden Morgen beim Frühstückskaffee fällt mein Blick auf ein Ausstellungsplakat mit den vier schweigenden Gewalten dieses überlebensgroßen Pastells: Kind, Katze, Fußboden, Hintergrund. Oft wird dabei das Hinsehen zur Erinnerung an die eigene Kindheit (lange vorbei), und an das schattenhafte Dämmern vor dem Aufwachen (gerade eben).  

Allmorgendlich suchen wir, die bräunliche Benommenheit, das In-sich-Versunkene des Schlafs hinter uns lassend, eine Orientierung in der uns noch scharf überfordernden Welt und Gesellschaft. Für einen Moment ist man wieder das Kind, das Schritt für Schritt wohl oder übel lernen muß, sich der äußeren Umgebung und ihren Gesetzen anzupassen. Der Erwachsene ist in dieser Übung trainiert. Das Kind erlebt den Vorgang erstmalig, als grundsätzlichen Prozeß. Das hier dargestellte ahmt ihn zugleich nach.  

Es spielt ihn sich vor, beschwört ihn, ohne sich dessen bewußt zu sein. Auch der Zuschauer wird durch die braune Dunstigkeit des Hintergrunds - ein feiner Staub, der trotz der Präzision von Konturen und Volumina über allem schwebt - in die Lichtverhältnisse des Träumerischen, teilweise sogar in die gestaltlose Dunkelheit der übergestülpten Tüte und damit in die Phase der frühen Lebensjahre entführt, ausgiebiger als in der morgendlichen Schrecksekunde, bevor wir uns neu in die Verordnungen der Realität eingefädelt haben.  

     Das Kind aber tut noch ein Drittes: Es genießt. Die selbst auferlegte Wehrlosigkeit seines künstlichen Blindseins fordert eine Erprobung des Tastsinns und erzeugt ein erhöhtes Wahrnehmen durch Einschränkung. Es sieht statt mit den schnellen, selektiven Augen mit dem langsameren gesamten Körper. Alles wird zur empfangsbereiten Antenne für die Signale der Außenwelt. Die Zunge, vor Anspannung so weit es irgend geht durch den Tütenschlitz gesteckt, bildet den Auftakt eines tentakelartigen Erforschens mit den verbliebenen Kräften der Sinne. Die in alle Richtungen gespreizten, rührend rundlichen Finger, als könnte man mit ihnen nicht nur spüren, sondern auch horchen, setzen es fort. Nicht anders die kleinen Füße. Sie schieben sich auf ihrer Entdeckungsreise über Fliesen, die in der praktischen Buntheit für Kindergärten und öffentliche Toiletten typisch sind. Hier, an dieser Stelle, beim pfötchenhaften Erfühlen des harten Untergrunds, ist die Zone, wo das Kind unmittelbar an die objektive Welt stößt. Als Hypertrophie seiner Extremitäten richtet sich das nicht abgeschnittene Fadenende an der linken Sockenspitze zum Zusatzsensor auf.  

Aufgerichtet ist auch der Schwanz der Augenzeugin. Sie ist dem Kind durch die Deutlichkeit stummer Körpersprache verbunden, die jedoch im Fall der Katze etwas anderes, nämlich animierte Beobachtung verrät. Von der Drehung der Pupillen bis zur Schwanzstellung ist dem Tier abzulesen, was es, von der vermittelten Stimmung angesteckt, seinerseits aus der Erscheinung des Kindes entziffert. Halb vor die Klokacheln, halb vor den braunen Hintergrundnebel plaziert, fungiert es als Schaltstelle, als Fährmann zwischen Innen und Außen.

Ihr, der Katze, allerdings ist es ein- und dasselbe.

Für uns ist es das, anders als Goethe es forderte, normalerweise nicht. Wir sind erst zufrieden, wenn wir unter der sogenannten Oberfläche zur Tiefe einer sogenannten Bedeutung vorgestoßen sind. Wir sagen nicht so gern: >Hier werden wir der Außensicht einer inneren Verfassung früher Kindheit ansichtig, die wir in Wahrheit nie ganz loswerden.< " Lieber resümieren wir: >Es handelt sich um ein Symbol der Kindheit, wie wir uns von außen und innen an sie erinnern, und darüber hinaus um eins der menschlichen Verletzlichkeit, eines blinden Verlorenseins, unseres ratlosen Tappens in Leben, Welt, Universums.<  Was insofern Unsinn wäre, als das Bild nicht bedeutet und schon gar nicht eine Hieroglyphe philosophischer Erkenntnis darstellt.

Das Bild ist !

Nämlich ein Ausdruckskonzentrat durch größtmögliche Verdichtung und absolute Ökonomie der Energieträger Mensch, Tier, Kacheln, Fond: zurechtgerückt, gestaucht, geballt, um, in rein optischer Argumentation der vier Weltelemente des Bildes, zu sein. Nur deshalb ist sein Geheimnis auch nach langem Ansehen unverschlissen. Im Gegenteil, es erneuert sich ständig.  

Natürlich ruft die Tüte über dem Kopf des Kindes im Außenanblick noch ganz andere, grausige Zuordnungen hervor, fixer, als daß man sie unterbinden könnte. Aus dem Spiel ist der jederzeit darin steckende Ernst geworden: die Mütze des Henkers etwa, des Vermummten, auch, in spitz zulaufender Version, der ehemaligen Ku-Klux-Klan-Leute amerikanischer Südstaaten, und, als nordamerikanische Variante, vielleicht gegenwärtig am stärksten, die offensichtliche Entwürdigung von Gefangenen durch Überstülpen von Kapuzen ohne Sehöffnung. Nach wie vor wird dort wie bei den Fetischmasken eingeborener Medizinmänner erfolgreich auf die magische Wirkung durch Anonymisierung gesetzt.  

Die Kunst führt ambivalente Suggestionen des Sichtbaren vor, wie es hier, im Kindheitsporträt, Dieter Asmus tut. Mit Inbrunst und Brillanz treibt er die Wesen und Dinge ins Augenfällige, damit sie uns Betrachter pfeilgenau treffen im tiefsten, frühesten Grund.

Da, wo wir noch Kind, ja Katze sind.
 

(erschienen in Neue Zürcher Zeitung, 2006)
 

 
 
     

Zurück zu "Texte

Home