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Helmut Heißenbüttel

 
Kleine Rede über Realismus vor Bildern von Dieter Asmus
     
   

     Die Wörter real, Realismus, realistisch beziehen sich auf etwas, das als allgemein gesichert gilt. Was real ist, ist das, was es gibt. Realismus ist etwas, das sich an das hält, was real ist, was es also gibt. Realistisch ist es, das was es gibt, als real anzusehen, also auch als das, was es gibt. Realistisch heißt aber auch das, was bemüht ist, das was real ist, was es also gibt, nachzuahmen. Eine realistische Literatur oder Malerei, die sich an das hält, was real ist, die das nachahmt, was real ist, die also nachahmt, was es gibt. Aber was ist das?

    Wir sprechen häufig auch, wenn wir die Wörter real, Realismus, realistisch gebrauchen, von dem, was uns unsere Sinneswerkzeuge zeigen, das Sichtbare, das unsere Augen sehen, das Hörbare, das unsere Ohren hören, das Riechbare, das unsere Nasen riechen, das Fühlbare, das unsere Körper fühlen, das Schmeckbare, das unsere Geschmackswerk­zeuge schmecken. Hier ist sofort erkennbar, daß das Geschmeckte nur umschrieben, nicht nachgeahmt werden kann, denn der nachgeahmte Geschmack wäre schon wieder ein realer Geschmack. Wir haben keine Werkzeuge, um Geschmack nachzuahmen. Das Gleiche gilt für den Geruch. Man spricht zwar von Duftkompositionen, wenn ein neues Parfum auf den Markt gebracht wird. Aber das ist nur auch  wieder ein realer neuer Geruch. Das Gefühlte läßt sich nur zum Teil nachahmen, im Gefühl für eine Oberfläche, für bestimmte Formen, Kanten, Rundungen usw. Aber wenn wir eine griechische Plastik vor uns haben, fühlen wir sie nur zu einem Teil. In der Hauptsache sehen wir sie als etwas Sichtbares.

    Bleiben Ohren und Augen. Und hier ist es auch wieder sofort deutlich, daß die Töne, die das Ohr hört, die nicht aus der Realität stammen, auch nicht Realität nachahmen, nicht realistisch sind, sondern etwas Neues, etwas, das zu dem, was es gibt, hinzukommt. Wo, wie im 20. Jahrhundert, reale Töne, Laute, Geräusche als musikalische Mittel benutzt worden sind, ahmen sie doch nicht das nach, was es real gibt, sondern versuchen, das Reale tönend neu zu organisieren und zu durchdringen.

    Es gibt keine realistische Musik. Musik ist das Tönende, Hörbare, das den real zu Hörenden, das es gibt, hinzugefügt wird. Einzig das Auge kann schließlich das Sichtbare so auffassen, daß es in der Lage ist, die geübte und geschickte Hand zu veranlassen, das Gesehene, das Sehende nachzuahmen. Mit Strichen, mit Farbe oder mit plastischem Material kann das noch einmal gezeigt werden, was das Sinnenwerkzeug Auge sieht.

   Man spricht denn auch, wenn man die Wörter real ,Realismus, realistisch im Bereich der Kunst verwendet, am ehesten von realistischer Kunst, wenn man Zeichnungen, Gemälde und Plastiken meint. Ja, es gab lange Epochen, die unter der Schulung, die die Hand erfahren und unter der Geschicklichkeit, die die Hand besitzen mußte, um etwas Reales nachzuahmen, eben jene Schulung und Geschicklichkeit verstanden, die das vom Auge Erfaßte nachzuahmen, wiederzugeben, zu verdoppeln vermochten. Eben dies sollte geschult, zu eben diesem sollte die Hand geschickt sein. Das klingt sehr einfach, ist es in gewisser Weise auch. Aber jeder Blick auf die Abbildungen eines kunstgeschichtlichen Sammelwerks bezeugt, zu wie verschieden aussehenden Ergebnissen das führen kann und wie kompliziert diese Ergebnisse sowohl zu unterscheiden wie auch unter einen Hut zu bringen sind. Sah der Maler, der das Prinzip der Zentralperspektive noch nicht entdeckt hatte, seine Realität anders, vielleicht falsch? War, im zentralperspektivisch aufgebauten Bild diese das wahre Auswahlprinzip? Entsprach es dem, was das Auge sah, wenn alle im Bild erscheinenden Körper plastisch ausmodelliert gemalt wurden? Oder war die Auflösung in Flecken, Schatten und Farbkleckse eher das Realistische?

    Dies sind nur andeutende Erinnerungen. Und ich gehe noch einen Schritt weiter. Mit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert schien es so, als sei dem Menschen ein Mittel an die Hand gegeben, ohne geschulte und geschickte Hand, gleichsam durch den Trick eines Apparats, das nachzuahmen, was das Auge sah und sieht. Es festzuhalten, das ist das Wort, das dabei am liebsten verwendet wird. Die Realität wird durch das Foto nicht verdoppelt, nachgeahmt, wiedergegeben, sondern festgehalten. Gleichsam am Schwanz festgehalten. Aber ist das, das Reale, das im Foto erscheint, der Schwanz dessen, was es gibt? Und hat festhalten nicht zugleich den Doppelsinn, der auch sagt, das Foto hält die Realität an, stoppt die Zeit, in der Realität für uns vorkommt? Aber gilt das nicht genauso für Zeichnungen, Gemälde, Plastiken? Halten sie nicht ebenso die Zeit an, in der alles, was es gibt, vorhanden ist?

    Es hat ja Versuche gegeben, die Zeit mitzumalen, als Thema sozusagen, innerlich, verinnerlicht oder auch direkt in der Art, daß ein Bild mehrere Phasen zeigt, die sich in der Zeit abspielen. Wäre das vielleicht die realistischste Malerei der realistischen Malerei gewesen? Oder kommt dabei nur eine unklare Malerei heraus, eine, die sich zwischen mehreren Konturen nicht entscheiden kann und daher alle mitmalt? Spielt das nicht auch eine Rolle: das Verwischen der Kontur, so als ob das Unscharfe, das nur flüchtig Wahrgenommene, Wahrnehmbare, Hinmalbare das Richtige wäre?

    Ich muß hier mit Fragen aufhören. Denn so weitschweifig ich das auch fortsetzen könnte, soviel Beispiele ich auch aus allen Ecken hervorzerren könnte, eins ist schon an diesem Punkt deutlich und wird sich durch keine Fortsetzung und keine Manipulation mehr verändern lassen: daß nämlich in einem solchen Durchgang bereits sehr rasch das verloren geht, was die Wörter real, Realismus, realistisch eigentlich und im Grunde meinen. Die Beschreibung und Befragung dessen, was in der künstlerischen Tätigkeit des Menschen als realistisch bezeichnet werden kann, macht sehr rasch unsicher über das, was dem zugrunde liegt, das Reale, das, meinetwegen, von den Sinneswerkzeugen Wahrgenommene. Denn von Giotto bis, so will ich hier einmal sagen, Dieter Asmus hat sich hinter dem Nachgeahmten, dem realistisch Vorgestellten nicht etwas unwandelbar erhalten, hat es, wie noch, auf historische Stoffe bezogen, die Historienmaler des 19. Jahrhunderts meinten, nicht ein unverändert Reales gegeben, das darzustellen war. Sondern dieses, das immer als das Zugrundeliegende verstanden worden ist, entstand erst in den Versuchen der Nachahmung, des Realismus.

    Es ist also nicht so, daß hier eine Landschaft, ein Baum, ein Haus, ein Tier oder eine menschliche Gestalt ist, Landschaft, Baum, Haus, Tier, Mensch über alle Zeiten, von der Bibel bis heute, als sie selbst, als solche, als Realien, und dort ist einer, der zeichnet, malt, bildhauert, und das, was sich in der Zeit verändert, ist dann eine Variante des Nachahmens, eine Interpretation, eine Technik. Realistische Kunst ist nicht variierende, interpretierende, technische Nachahmung des unverändert in seinem Wesen Gleichen. Sondern realistisch malen heißt, erst dies herzustellen, dieses Reale. Das Reale ist nicht das unveränderbar Zugrundeliegende, Landschaft, Baum, Haus, Tier, Mensch, usw., sondern es ist das, was der Maler in seinem Bild als das durchdrungene Gesehene immer neu und für jede Zeit anders erschafft.

    Insofern können auch Raffael, Dürer, Tizian, Tintoretto, Caravaggio, Claude Lorrain, Rembrandt, Rubens, Tiepolo, Guardi usw. usw. als Realisten bezeichnet werden. Denn wenn es im 16., 17. oder 18. Jahrhundert in unserer kulturellen Tradition etwas Reales gegeben hat, dann das, welches, unter anderem, die Maler gezeigt haben. Das beschränkt sich keinesfalls auf Grundform, Malweise, Erzählweise, technisches Können der jeweiligen Zeit. Sondern das bringt erst das Reale selbst vor das Auge des Menschen, der malt, und des Menschen, der das Gemalte betrachtet. Es geht auch nicht darum, daß der Maler verständlich oder einfach oder überzeugend malt. Das alles hat der Betrachter nicht, erfährt er allenfalls durch nachträgliche Übereinkunft mit anderen Betrachtern. Sondern indem der Maler malend das Reale erfindet, überfällt er damit den, der sein Werk anblickt, und am Blitz des Überfalls erkennt der Hinblickende, was ist, was es gibt, so vorher nie gegeben hat.

    Ich habe am Anfang etwas vergessen, das mit der Erfahrung der Sinneswerkzeuge arbeitet, aber in sich keine eigene Sinnlichkeit hat oder doch nur eine teilweise, abgezogene, man könnte sagen, eingebildete, halluzinierte: Sprache und Literatur. Es ist jetzt deutlich, warum ich damit hinter dem Berg gehalten habe, dem Berg der vermeintlichen Nachahmung. Denn Sprache und Literatur, indem sie nicht Realität darstellen, sondern sie bereden, sie mit einem bestimmten, gemischt visuell-akustischen Zeichenapparat umschreiben, drumrumreden meinetwegen, sind von vornherein gezwungen, das zu tun, was ich bei der Malerei erst auf dem Umweg aufgedeckt habe: sie erfinden Realität. Erst das Benannte, das Ausgesprochene, das in der Rede In-Bezug-Gesetzte erweist sich als real. Die sogenannte realistische Literatur unterscheidet sich von der sogenannten nicht realistischen Literatur nur durch die verschiedenen sprachlich herausgestellten Auswahlprinzipien, nicht im Grundsatz. Literatur ist ihrem Wesen nach realistisch.

    Das gilt, gezielt, auch für den Maler. Und was heißt das heute? Verschiedene Entwicklungen haben die Grundauffassungen von dem, was ein Bild heißen soll, verändert. Da ist einmal die Fotografie, die mehr zeigt, als das Auge normalerweise sieht, Zwischenstufen der Bewegung, aber auch ungewöhnliche Blickwinkel, Raffungen, Streuungen usw. Da sind die verschiedenen Vorstöße einer Bildherstellung, die wechselnd abstrakt und konkret genannt wurde und wird. Ihnen ist eins gemeinsam: sie leiten die Bildvorstellung allein aus Formalien und Naturalien ab, etwas, das es früher nur in den sogenannten dekorativen Künsten gab, Fassadengestaltung, Teppichknüpferei, Mosaikbodenmuster usw. Aber auch der Maler, der heute das malt, was er sieht, kann nicht hinter diese formale Definition des Bildes zurückgehen. Das heißt, sein Realismus ist vorbestimmt durch den Blick, der zwischen den, ich will einmal sagen, naiven Bildern hindurchblickt und durch einen rigorosen Formalismus.

   Damit sind wir, so meine ich, schon unmittelbar im Werk des Malers Dieter Asmus angelangt. Seine Bilder zeigen Realität, die in strenge Formraster eingespannt ist. Sie zeigen Realität wie im Sprung aufgehalten, in einer bezeichnenden Geste festgesetzt, angehalten. Manchmal wie ins gestische Zeichen stilisiert, manchmal Zeitablauf in Stilisierung des Dargestellten gefroren, manchmal wie in eine ganz neue Unvergänglichkeit heraufgehoben. Die Realität, die in diesen Bildern neu gezeigt, die erfunden wird durch Darstellung, ist nie unverbindlich. Das Wesentliche, das ihr abzulesen ist, ist das Verbindliche, das, ich will einmal sagen, Vormachende des Sehens. Und nur so ist die Malerei von Dieter Asmus realistische Malerei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: als verbindliches Bild. Die Fotoerfahrung oder gar das Foto selbst wird nicht imitiert, sondern aufgearbeitet, durchdrungen, formalisiert und in seinem Zeichenwesen aufgedeckt.

    Wir erkennen als Betrachter an diesen Bildern eine Welt, die anders ist, und wenn wir dies Anderssein erkennen, sind wir bereits ins Andere übergewechselt. Das, was diese Bilder verbindlich zeigen, verbindet uns und verpflichtet uns.
  

(erschienen im Katalog D.A., 2005)

 

 

 

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